23.07.2020 – Editorial

Statt einer 1.-August-Rede

Nach Fasnacht, Fussball und Ferienreisen missgönnt uns Co­rona jetzt auch das Zusammensein am 1. August: Die meisten Städte und Gemeinden haben ihre Bundesfeiern abgesagt. Dabei gäbe es dieses Jahr Stoff für 1.-August-Ansprachen wie noch nie. Und ich vermute, die meisten Reden wären diesmal spannender als sonst. Denn diese Krise trifft uns alle persönlich – aber mit grossen Unterschieden je nach Alter, Lebenssituation oder Wirtschaftszweig, in dem jemand sein Leben verdient.

Auch als staatliche Gemeinschaft standen wir dieses Frühjahr plötzlich vor einer Bedrohung, wie sie zwei oder drei Generationen zuvor nicht erlebt hatten. Den ersten Test hat die Schweiz bestanden, wenn auch zu einem hohen Preis. Es war ein kollektiver Lernprozess. Grosse Teile der Bevölkerung haben die Massnahmen der Behörden mitgetragen und so die angestrebte Wirkung ermöglicht. Die überall spürbare Hilfsbereitschaft und Kreativität bewirkte, dass die Verunsicherung ausgehalten werden konnte und bis jetzt kaum in Frust oder Aggressionen umschlug.

Nicht alles war gut. Angehörige von Risikogruppen wurden über eine (zu) lange Zeit rigoros von persönlichen Kontakten abgeschnitten. Manche von ihnen mussten sich schief ansehen lassen, wenn sie sich ausser Haus bewegten. Das ging zu weit. Viele Pfarreien und Freiwillige haben mitgeholfen, diese unmenschliche Isolation zu durchbrechen. Dagegen vermisste ich in der Öffentlichkeit Stimmen, die sich früh und entschieden für die Rechte der Älteren und Risikopatienten eingesetzt hätten. Ganz überflüssig waren dagegen jene, die in der Krise die Generationen gegeneinander auszuspielen versuchten. Aufgabe einer jeden Gemeinschaft ist es, angesichts einer Bedrohung diejenigen ihrer Glieder zu schützen, die besonders gefährdet sind. Ohne nachher Rechnung zu stellen.

Die Schweiz ist keine Insel, sie wurde von dieser Pandemie genauso erfasst wie andere Länder. Auch bei uns stiegen die Zahlen der Angesteckten und der Erkrankten in einzelnen Regionen gefährlich steil an, und diese Situation kann plötzlich wieder eintreten. Aber bis jetzt haben sich Staat und Gesellschaft in der Schweiz als fähig erwiesen, trotz lückenhafter Kenntnisse über das neue Virus schnell genug zu handeln. Ich hätte mich in keinem andern Land sicherer gefühlt. Vor einem Monat schrieb der 94-jährige ehemalige SP-Nationalrat Helmut Hubacher als letzten Satz seiner letzten von 1445 Kolumnen in der «Basler Zeitung»: «Diese Schweiz ist alles in allem ein fantastisches Land.»

Christian von Arx