14.05.2020 – Editorial

Freiheit

Wie die grosse Befreiung fühlt sich der Alltag auch nach den ersten beiden Lockerungsschritten nicht an. Die Erfahrungen der letzten Wochen, gerechnet ab Ankunft von Corona in der Schweiz, haben bleibende Spuren hinterlassen. Manche dieser Spuren sind sichtbar, andere befinden sich in unseren Köpfen.

Absperrbänder, Abstandslinien am Boden, Ampeln vor dem Eingang zum Supermarkt weisen uns unübersehbar darauf hin, dass uns etwas bedroht. Und schon Dreijährige wissen, wie dieses Etwas heisst. «Wägem Virus» seien Kleiderläden und auch der Zolli geschlossen, hat mir mein Enkel erklärt. Und er weiss auch, was man gegen das fiese Virus tun kann: Händewaschen und in den Ellbogen husten. Dies gilt zumindest auf der Ebene der Theorie, bei der praktischen Umsetzung hapert es noch.

Nun öffnen die Kleiderläden wieder und – hurra – auch die Bibliotheken. Aber soll man da nun auch sofort wieder hin? Hat man sich im Lockdown noch gefragt, ob das alles wirklich sein muss, ist man nun umgekehrt verunsichert, ob denn nun das wieder Erlaubte auch gefahrlos sei. Und warum ist das eine erlaubt, anderes aber noch nicht? Warum kann man ins Museum, aber nicht in den Zoologischen Garten? Hätte der Bundesrat öffentliche Gottesdienste bereits in den ersten Lockerungsschritten wieder ermöglicht, wenn sich die Kirchen so lautstark wie die Gastrobranche bemerkbar gemacht hätten?

Eine kleine und damit nicht repräsentative Umfrage bei Seelsorgenden weist darauf hin, dass diese pragmatisch mit der Problematik umgehen. «Schritt für Schritt» wolle man vor­gehen und «eher klein starten», «möglichst flexibel sein», hiess es etwa bezüglich öffentlicher Gottesdienste, die nach aktuellem Stand frühestens ab 8. Juni möglich sind. Zu den Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, gehören auch das Bedürfnis und die Bereitschaft zur Gottesdienstteilnahme.

Die Beispiele der befragten Seelsorgenden machen deutlich, dass Kirche mehr ist als Gottesdienste. Wer mehr dazu wissen will, dem sei die Lektüre der Pfarreiseiten in diesem Pfarrblatt ans Herz gelegt. Dort erhält man einen Einblick in alle Pfarreien und Missionen des Verbreitungsgebietes von «Kirche heute». Trotz Einschränkungen haben die Seelsorgenden Wege und Mittel gefunden, die kirchliche Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Das zeigt auch, dass mit dem Verbot öffentlicher Gottesdienste aus gesundheitspolitischen Gründen die Religionsfreiheit nicht ausgehöhlt ist.

Regula Vogt-Kohler