28.04.2018 – Editorial

Postkarten

Sie war in ihrem langen Leben nie hier, aber sie ist an den entlegensten Orten präsent – einfach überall, wo sich eine Felsformation findet, die ihr mehr oder weniger ähnlich sieht. Wir haben auf der Fahrt durch das australische Outback vieles erwartet, aber nicht sie: Queen Victoria. Da vorne sei ihr Kopf zu sehen, sagt unser Tourguide, und tatsächlich: Mit etwas Fantasie ist das Profil ihrer späteren Jahre zu erkennen – mitten in einer Landschaft, die so gar nichts Englisches an sich hat.

Es ist eine raue, von Extremen geprägte Gegend, deren lieblichste Elemente spärliche Bäume mit graugrünen länglichen Blättern sind. Wie mit einem Pinsel hingetupft stehen sie da und weisen darauf hin, dass es selbst jetzt in der Trockenzeit Wasser gibt, irgendwo im Untergrund. Nach Mitgliedern von Königshäusern und prominenten Persönlichkeiten des Britischen Empire benannte Hügelzüge sorgen für willkommene Konturen in einer Weite, die in ihrer Grandiosität auch etwas Gnadenloses hat. Die Sonne brennt von einem sehr blauen Himmel auf die rote Erde, und die Nacht, die wegen der Nähe zum Äquator schnell kommt und geht, ist trotz der vielen Sterne sehr dunkel.

Archaisch, ursprünglich, natürlich, unverfälscht – das sind die Attribute, die man mit solchen Landschaften verbindet. Und dann erfährt man staunend, dass es hier (und natürlich auch anderswo) einmal ganz anders ausgesehen hat. Die Vergangenheit hat lebendige Botschaften hinterlassen: Pflanzen, die in geschützten Nischen bis heute überlebt haben, erzählen von anderen klimatischen Bedingungen, die in einer weit zurückliegenden Zeit eine üppige Vegetation ermöglichten.

Auch Landschaften, die dem direkten Einfluss des Menschen weitgehend entzogen sind, verändern sich. Damit lässt sich die Frage danach, wie unsere durch menschliche Eingriffe geschaffenen Kulturlandschaften «ursprünglich» einmal ausgesehen haben, nicht oder jedenfalls nicht grundsätzlich beantworten. Wenn es also heisst, dass die heutige Schweiz einst fast ganz von Wäldern bedeckt war, ist das ebenso eine Momentaufnahme wie das Bild einer Postkarte.

Queen Victorias Kopf ist übrigens ein Gruss aus dem Devon, einem nach einer englischen Grafschaft benannten geologischen Zeitalter, das rund 400 Millionen Jahre zurückliegt. Die Felsformation, die heute ein gutes Stück von der Meeresküste weg im Landesinnern liegt, war damals Teil eines Korallenriffs.

Regula Vogt-Kohler