Fast 20 Jahre «hinter Gittern» gearbeitet: Gefängnisseelsorgerin Franziska Bangerter Lindt. | © Kenneth Nars
Fast 20 Jahre «hinter Gittern» gearbeitet: Gefängnisseelsorgerin Franziska Bangerter Lindt. | © Kenneth Nars
21.11.2019 – Aktuell

«Es war absolut richtig, ins Gefängnis zu gehen»

Pfarrerin Franziska Bangerter Lindt blickt auf fast 20 Jahre als Gefängnisseelsorgerin zurück

Die reformierte Theologin Franziska Bangerter Lindt arbeitete rund zwanzig Jahre als Gefängnisseelsorgerin, unter anderem im Kanton Basel-Stadt. Bei den Gefangenen sei die Reue meist ein Prozess, fasst die Pfarrerin kurz vor ihrer Pensionierung ihre Erfahrungen zusammen.

Zwanzig Jahre hinter Gittern mit Strafgefangenen: Verschleisst dies einen nicht? «Ich habe meine Arbeit immer gerne gemacht, langweilig ist es mir nie geworden», erklärt Pfarrerin Franziska Bangerter Lindt. Zu keinem Zeitpunkt habe sie es bereut, Gefängnisseelsorgerin zu sein. Im Lauf der Zeit sei ihr aufgegangen, wie zerbrechlich das Leben ist und dass sie selbst privilegiert aufwachsen durfte.

Die 64-jährige Theologin kam als Tochter eines Berners und einer Britin in Biel zur Welt und ist in Sigriswil im Berner Oberland aufgewachsen. Dort verbrachte sie eine behütete Kindheit. Nach dem Theologiestudium arbeitete sie zuerst als Gemeindepfarrerin in Biel und danach bei der Fachstelle Migration der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Erst ab dem Jahr 2000, nachdem sie eine Ausbildung für Spital- und Gefängnisseelsorge absolviert hatte, kam die verheiratete Mutter zweier erwachsener Kinder mit dem Gefängnisalltag in Berührung. «Es war die absolut richtige Entscheidung, ins Gefängnis zu gehen», ist Bangerter Lindt noch heute überzeugt. Im Gegensatz zu den Insassen durfte sie es ja jederzeit wieder verlassen.

Männlich und ausländisch

95 Prozent der Gefangenen sind männlich, 85 Prozent der Insassen sind ausländischer Herkunft. Als Seelsorgerin begleitete Franziska Bangerter Lindt die Häftlinge im Gespräch, hörte ihnen zu und schenkte ihnen Zeit und Aufmerksamkeit. «Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass es keine Gefangenen gab, die einen nervten», erklärt Bangerter Lindt. Aber es gehe bei den Gesprächen mit den Inhaftierten darum, noch vorhandene Ressourcen herauszuarbeiten, die helfen, einen Sinn oder künftige Aufgaben im Leben zu finden. «Man muss die Tat vom Menschen trennen», sagt Bangerter Lindt. Dies erfordere viel Offenheit, speziell wenn man auf Menschen mit wenig Selbstreflexion oder völlig anderen Wertesystemen treffe. «Ich habe schon erlebt, dass ein muslimischer Mann nicht begreifen konnte, dass er hier in der Schweiz seine Frau nicht schlagen dürfe.»

Reue kann mit der Zeit entstehen

Als Gefängnisseelsorgerin hatte es Franziska Bangerter Lindt auch mit Menschen zu tun, die ihre Tat bagatellisieren, verdrängen oder gleichgültig hinnahmen. Manchmal passte das Verbrechen überhaupt nicht zum Menschen, der vor ihr sass. Man sehe jemandem die Tat nicht an. Sie sei schon Menschen begegnet, die so gar nicht der landläufigen Vorstellung eines brutalen Schlägers entsprachen, sondern höchst umgänglich waren und freundlich und eloquent auftraten, erzählt Bangerter Lindt. Die Mehrheit zeige mit der Zeit Reue, dies nach einem allmählichen Prozess. «Am Anfang fühlen sich die meisten unschuldig», sagt Bangerter Lindt. Erst mit der Zeit erschliesse sich ihnen das Gefühl von Reue. Am meisten freut sie sich über jene, die ihre Schuld eingestehen und Verantwortung übernehmen.

Gefangene möchten reden

Besonders herausfordernd sei der Umgang mit Insassen, die psychisch krank sind. Im Massnahmenvollzug verteilen sich die Vergehen etwa zu einem Drittel auf Gewalt, Sucht oder Pädophilie. Angst habe sie jedoch in ihrer Arbeit ganz selten gehabt. Auch sei sie nie angegriffen worden. Das habe vermutlich damit zu tun, dass sie nie die Überbringerin der negativen Nachrichten war. «Die Gefangenen möchten mit mir reden, sie erleben mich in der Regel als positive Person.» Manchmal thematisierte die Seelsorgerin in den Gesprächen die Tat und suchte nach Möglichkeiten, wie für das Opfer oder dessen Angehörige eine Wiedergutmachung aussehen könnte.

Schweizer Vorzeigegefängnisse

Gefängnis sei nicht Gefängnis, erklärt Bangerter Lindt. Die angenehmen Gefängnisse würden sich ihrer Erfahrung nach in Deutschland, Österreich und der Schweiz befinden. In den meisten europäischen Ländern seien die Anstalten mangelhaft, ganz zu schweigen von denen auf anderen Kontinenten. «Es bleibt überall der Umstand, dass man im Gefängnis von der Aussenwelt abgeschnitten ist», resümiert Bangerter Lindt. Wichtig sei für die Qualität eines Gefängnisses, dass auch dem Personal Wertschätzung entgegengebracht würde. Gute Arbeitsbedingungen seien das A und O für eine funktionierende Haftanstalt. Dies nütze allen, insbesondere den Gefangenen.

In diesem Zusammenhang bemerkt Bangerter Lindt, dass sie auch für sich selbst Seelsorge betreiben muss. Dafür nehme sie Super­vision in Anspruch und schöpfe im Kreis ihrer Familie und Freunde und in der Natur neue Kraft. Um mit den schwierigen Situationen umgehen zu können, brauche es ein intaktes privates Umfeld, gesunden Menschenverstand, Humor und eine gute Bodenhaftung.

Toni Schürmann, Redaktion «Kirchenbote»

 

Nach der Pensionierung der Gefängnisseelsorgerin Franziska Bangerter Lindt auf den 30. November übernimmt die römisch-katholische Theologin Anna-Marie Fürst, die schon bisher ein 20-Prozent-Pensum innehatte, zusätzlich die Aufgaben ihrer reformierten Kollegin und wird ab 1. Dezember in einem Teilzeitpensum von 50 Prozent für die Gefängnisseelsorge Basel-Stadt tätig sein.

kh