Maria mit dem Körper ihres gekreuzigten Sohnes: Die Pietà von Michelangelo, Marmor (1498/99).  | © Juan M. Romero/wikimedia
Maria mit dem Körper ihres gekreuzigten Sohnes: Die Pietà von Michelangelo, Marmor (1498/99). | © Juan M. Romero/wikimedia
12.09.2019 – Impuls

Lukas 2,34f

Und Simeon segnete sie und sagte zu Maria, der Mutter Jesu: Siehe, dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele zu Fall kommen und aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird, – und deine Seele wird ein Schwert durchdringen. So sollen die Gedanken vieler Herzen offenbar werden.

Einheitsübersetzung 2016

 

Klage ohne Anklage

Unauslöschlich hat er sich mir in die Seele eingebrannt, jener eine Satz aus dem Munde des Vaters, als wir nach der Beerdigung seines zwanzigjährigen Sohnes in der Wirtschaft beisammen sassen: «Das weiss keiner, was es heisst, den eigenen Sohn zu beerdigen.» Er sagte es gefasst, ohne Bitterkeit, beinahe emotionslos, und doch lag in seiner Stimme und in seinem nirgendwohin gerichteten Blick eine unendliche Traurigkeit. Andere Eltern haben ihr Kind verloren infolge eines Unfalls oder wegen eines Geburtsfehlers oder durch Suizid. Es sind Dinge, welche uns in die Sprachlosigkeit treiben, die Betroffenen ziehen es vor, auf die Wunden den Schleier des Schweigens zu legen. Hier von Trauerarbeit zu reden, wirkt ziemlich taktlos.

Und wenn hinter all dem nicht nur ein blindes, ungnädiges Schicksal steht, sondern banale, brutale Bosheit? «Dutzende Tote bei Anschlag auf Hochzeit», so die Information aus Kabul (Afghanistan) am 18. August. Genau waren es 63 Tote und mindestens 182 Verletzte, Resultat eines Selbstmordattentats. «Die Kindsmörderin handelte vorsätzlich», lautete die Schlagzeile am 28. August, welche über die Hintergründe der Tötung eines siebenjährigen Primarschülers im letzten März im Basler Gotthelfquartier informierte. In der Woche zuvor war zu lesen von einem 28-jährigen Vater, der zusammen mit einem andern Mann vor laufender Kamera seine zweijährige Tochter vergewaltigte, live ins Internet übertragen. Kurz bevor ich mich an diesen Text hier machte, prangte auf der ersten Seite: «Morde an Frauen – eine Serie erschüttert das Land».

Wer wird diese Ungeheuerlichkeiten wieder gutmachen? Wie soll so viel Unheil je ausgeglichen werden? Können wir da vernünftigerweise noch auf Sühne, Gerechtigkeit und ein «Ende gut» hoffen?

All das und noch viel mehr geht mir durch den Kopf, wenn ich eine Darstellung der Schmerzen Marias betrachte. «Pietà» – Erbarmen – oder «Mater dolorosa» – Schmerzensmutter – steht darunter. Keine Zurschaustellung, kein Voyeurismus, sondern Offenlegung unserer himmeltraurigen menschlichen Realität. Sanftmut als Gegenentwurf zu Mord und Totschlag, stiller Protest gegen den ganz normalen Wahnsinn. Welche Seelengrösse! Mir fällt auf, dass auf dem Gesicht Marias kein Vorwurf, keine Anklage, keine Spur von Hass oder Rache zu sehen ist. Am eindrücklichsten vielleicht bei der «Pietà» Michelangelos, die 1972 von einem Geistesgestörten mit Hammerschlägen schwer beschädigt wurde, hinten in einer Seitenkapelle des Peterdoms in Rom. Ihr Antlitz glänzt und schaudert vor lauter Wehrlosigkeit, abgrundtiefem Schmerz, reinem Erdulden, es spiegelt die sich hingebende, aufopfernde Liebe ihres Sohnes, dessen leblosen Körper sie auf dem Schoss trägt. Das verleiht dem kalten Marmor eine überirdische Durchsichtigkeit, eine warme, zart pulsierende Lebendigkeit.

Die Lanze mitten ins Herz! Das Schwert durch die Seele! Schaut doch und seht! Keine Anklage, keine Schuldzuweisung, keine Vergeltung, sondern Solidarität bis zum letzten Blutstropfen, unauffällig, verborgen, einsam. Doch Gott weiss. Erlösung wird denkbar, Hoffnung erwacht, Leben keimt, Liebe siegt. Doch um welchen Preis!

Peter von Sury, Abt des Benediktinerklosters Mariastein