10.12.2020 – Editorial

Zeit zum Lesen

Vieles wird anders sein in dieser Weihnachtszeit. So manches werden wir vermissen. Es wird stiller sein, einsamer wohl auch. Vielleicht wird es eine Zeit zum Lesen? Um sich in ein neues Buch zu vertiefen oder um ein altes, gutes aus dem Gestell zu holen?

Zum Beispiel Friedrich Dürrenmatt, der am 5. Januar 100-jährig würde. In den 1980er-Jahren habe ich ihn an einer Lesung erlebt, in der Aula der Uni Bern las er «Das Sterben der Pythia». Der Stoff aus der griechischen Mythologie blieb mir fremd, aber Dürrenmatts Art zu lesen klingt mir noch heute im Ohr. Gleichförmig floss sein Vortrag dahin, der lesende Autor reihte Satz an Satz, setzte keinerlei rhetorische Effekte. Dennoch wuchs nach und nach ein Bild im Kopf. Es war, als schauten die Zuhörer gebannt einem Maler über die Schulter, der mit raschen Pinselstrichen Szene um Szene auf die Leinwand bringt. Nach einer halben oder ganzen Stunde wars ein grosses Tableau.

Durch Dürrenmatts Werk zieht sich eine spannende Auseinandersetzung mit religiösen Fragen. Als 25-Jähriger schrieb er ein Prosa­stück «Pilatus», in dem er uns die grässliche Angst und die Zweifel des römischen Statthalters in der Konfrontation mit Christus vor der Kreuzigung erleben lässt. Ein kühner Versuch, der mir fast jede Karwoche in den Sinn kommt. Jahrzehnte später entstand aus einem grossen Essay über Israel die Erzählung «Abu Chanifa und Anan ben David», vom muslimischen Gottesgelehrten und vom Rabbi, die sich über Jahrhunderte hinweg im Gefängnis verbissen befehden und am Ende ihre Zusammengehörigkeit erkennen: Ein Dürrenmattscher Beitrag zur geistigen Dimension des Konflikts in Pa­lästina.

Nicht religiös, sondern von der Erfahrung der kommunistischen Parteidiktatur geprägt ist die vor 50 Jahren entstandene Erzählung «Der Sturz». Fantastisch überspitzt und doch psychologisch präzis fabuliert Dürrenmatt darin eine Politbürositzung, in der das alles beherrschende Ringen um Macht und Hierarchie seinen Lauf nimmt. Das ist so zeitlos treffend, dass mich dieser Tage die beschämende Lektüre des Protokolls des Churer Domkapitels von der gescheiterten Bischofswahl an dieses Glanzstück erinnert hat.

Vielleicht begegnet Ihnen das geliebte Buch, das Sie durch die misslichen Umstände dieser Festtage trägt. Man liest immer wieder mit neuen Augen. Zum Beispiel die Geschichte der Geburt Jesu im Evangelium nach Lukas, Kapitel 1 und 2, und die Huldigung der Sterndeuter nach Matthäus, Kapitel 2.

Christian von Arx