26.08.2021 – Editorial

Wetterpropheten

Der Pfad, den wir hinaufkraxeln, ist nass, in der Nacht hat es (einmal mehr) geregnet. Wie sich das Wetter an diesem Tag entwickeln wird, ist die grosse Frage. Die Antwort darauf entscheidet darüber, ob wir die Wanderung wie geplant durchführen können. Gemäss Prognosen sind über Mittag die nächsten Regengüsse angesagt – ausgerechnet dann, wenn wir uns im anspruchsvollsten Teil der über zwei Hochgebirgspässe führenden Route befinden würden.

So steigen wir also den ersten steilen Hang hinauf, neben uns ein rauschender Bach, über uns ein Mix von Wolken, Nebelfetzen und etwas blauem Himmel und um uns herum viel feuchte Morgenluft. Weil der Weg schmal ist, bleibt allerdings der Blick am Boden haften. Und so sehe ich ihn, den kleinen schwarzen Lurch, der mitten auf dem Weg sitzt. Das sei ein Alpensalamander, erklärt uns Bergführer Forti. Und ein Mitglied der Wandergruppe weiss, wie man das Tier im Dialekt der Gegend nennt: Wetterguege. «Guege» ist im Bündnerland eine Bezeichnung für Lurche, Schlangen, Würmer und Käfer. Und der Zusatz «Wetter» bezieht sich darauf, dass der Alpensalamander als Wetterzeichen gilt:  Schaut er ins Tal, so regnet es den ganzen Tag.

Leider schaut der erste Alpensalamander talwärts. Aber vielleicht täuscht er sich, wie die menschlichen Wetterpropheten, die in letzter Zeit Mühe bekundeten, exakte Vorhersagen zu erstellen? Wir stapfen weiter, und siehe da: Der nächste Alpensalamander orientiert sich bergwärts! Das dritte Exemplar zerstört unsere Hoffnungen: Der arme Kerl liegt regungslos da.

Nur kurz lässt sich die Sonne blicken, dann kommt der Nebel und bald auch Regen. Forti spricht nun ein Machtwort: Wir kürzen die Tour ab. Immerhin schaffen wir es noch auf die Rote Furka. Von hier hätte man bei schönem Wetter einen prächtigen Ausblick auf den Silvrettagletscher. Forti erzählt, wie stark der Eisstrom im Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Österreich an Länge und vor allem auch Höhe abgenommen hat.

Dann folgt der lange und vor allem nasse Abstieg. Wetterguege sehen wir keine mehr. Alpensalamander sind vor allem nachts und in den frühen Morgenstunden aktiv. Besonders nach Regenfällen kommen sie aber auch tagsüber aus ihren Verstecken. Könnten Alpensalamander reden, würden sie von einem perfekten Sommer sprechen.

Regula Vogt-Kohler