Wenn die Tür aufgeht: «Dann werde ich hindurchgehen und den neuen Weg annehmen.» | © Rainer Sturm/pixelio.de
Wenn die Tür aufgeht: «Dann werde ich hindurchgehen und den neuen Weg annehmen.» | © Rainer Sturm/pixelio.de
17.09.2020 – Impuls

Matthäus 9,9–3

Als Jesus weiterging, sah er einen Mann namens Matthäus am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Und Matthäus stand auf und folgte ihm nach. Und als Jesus in seinem Haus bei Tisch war, siehe, viele Zöllner und Sünder kamen und assen zusammen mit ihm und seinen Jüngern. Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen? Er hörte es und sagte: Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Geht und lernt, was es heisst: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer! Denn ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.                 

Einheitsübersetzung 2016

 

Wenn es Zeit ist, öffnet sich die Tür

Eine Frau ist vor ein paar Monaten Witwe geworden. Im Gespräch berichtet sie mir von der grossen Unruhe, die sie ständig begleitet. Natürlich weiss sie, dass dieses Immer-wachsam-sein-Müssen eine Form der Trauer ist. Sie horcht, wenn es still wird um sie, darauf, ob sie ihren Mann atmen hört, vergeblich natürlich. Aber sie kann ihre Wache nicht aufgeben.

Was kann Frau X. mit ihrer Unrast anfangen? Den Gedanken, sich beruhigende Mittel vom Arzt verschreiben zu lassen, hat sie wieder aufgegeben. Sie will verstehen und bewältigen, nicht wegdrücken. Hingegen richtet sie ihre Aufmerksamkeit nun ganz bewusst in die Zukunft. «Ich muss etwas anfangen mit meiner neuen Situation. Ich brauche wieder ein neues Zentrum, sonst kann ich meinen Mann nicht loslassen.»

Wenn es nur so einfach wäre: Sie überlegt, ob sie sich nun für andere engagieren soll. Aber wo und wie? Sie spürt deutlich, dass sie allein mit dem Kopf ihr Problem nicht lösen kann. Sie beschliesst, ihre Situation erst einmal auszuhalten, abzuwarten, wie sich ihre Trauer weiterentwickelt. Frau X. lernt, dem Leben zu vertrauen und auf ihre eigene innere Antwort zu hören. «Wenn es Zeit ist, dann wird eine Tür aufgehen. Das weiss ich. Dann werde ich hindurchgehen und den neuen Weg annehmen.»

Mir ist Frau X. in den Sinn gekommen, als ich mich mit der Geschichte des Matthäus beschäftigt habe. Der sitzt an seiner Zollstelle und wartet darauf, angesprochen zu werden. Jesus wird ihn sehen, seine Bereitschaft erkennen und ihn rufen. Und so geschieht es. Dass Jesus ein Menschenkenner ist, ist hinlänglich bekannt. Mich interessiert eine andere Frage: Welchen Weg hat der Zöllner Matthäus zurücklegen müssen, bis er an diesen Punkt seiner Geschichte gelangt ist? Ich vermute, er hat eine lange, unruhige Suche hinter sich. Jesus reisst niemanden aus seiner Zufriedenheit heraus. Ein Reifeprozess ist an den Punkt der Entscheidung gelangt. Hier öffnet sich die Tür, seine Tür. Jesus nimmt die Angst dieses Mannes wahr und ermutigt ihn, durch diese Tür zu gehen.

Geduld ist ganz sicher nicht das Kennzeichen unserer Gesellschaft. Man muss sich ständig entscheiden, jetzt sofort, um nicht Chancen zu verpassen. Den Luxus, sich Zeit zu nehmen, um eine Entscheidung reifen zu lassen, gönnen sich nur wenige. Unsicherheit auszuhalten ist nicht unsere Stärke. Dafür stürzen wir uns lieber von einer Beziehung in die andere, von einer Ausbildung in die nächste Fortbildung, probieren hier und da – und werden dennoch nicht ruhig dabei. Das ist, wie wenn wir unreife Früchte von den Bäumen reissen würden, um dann festzustellen, dass sie sauer sind.

Frau X. hat erkannt, dass sie aus ihrer Unruhe nicht davonlaufen kann. Sie beschliesst, sich Zeit zu lassen, auch wenn sie dabei den Schmerz heftiger spürt. Dabei öffnet sie sich im Gespräch mit vertrauenswürdigen Menschen, teilt sich mit und gibt anderen eine Chance, sie zu unterstützen.

Ludwig Hesse, Theologe, Autor und Teilzeitschreiner, war bis zu seiner Pensionierung Spitalseelsorger im Kanton Baselland