In Pirita bei der estnischen Hauptstadt Tallinn liegt die Ruine des ehemaligen Klosters des Ordens der hl. Birgitta. | © Rob Tinsley/wikimedia
In Pirita bei der estnischen Hauptstadt Tallinn liegt die Ruine des ehemaligen Klosters des Ordens der hl. Birgitta. | © Rob Tinsley/wikimedia
09.07.2020 – Impuls

Johannes 15,3–5

Ihr seid schon rein kraft des Wortes, das ich zu euch gesagt habe. Bleibt in mir und ich bleibe in euch … Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.

Einheitsübersetzung 2016

 

«Was ist Gott anderes denn Leben und Lieblichkeit …»

In den Ferien. Da darf es endlich mal sein, dass wir irgendwo in der Hitze des Sommers herumspazieren, ohne viel nachzudenken. So war es, als ich vor einigen Jahren meine Tochter in Estland besuchte. Sie organisierte eine Übernachtung im Gästehaus des Klosters Pirita bei Tallinn. Pirita? Keine Ahnung. Anderntags faszinierte mich an dem Ort eine Ruine, die Überbleibsel eines Klosters. Eine Art Innenraum, kein Dach, der Boden eine Wiese. Ganz dem Himmel preisgegeben, lässt sich noch eine Kirche erahnen. Jedes Jahr würden da Abendkonzerte stattfinden, hatten wir gehört.

Jetzt ging mir ein Licht auf. Es war ein ehemaliges Kloster der Schwestern der hl. Birgitta von Schweden. Eines der Klöster der Birgitten-Schwestern. Und das Gästehaus, in dem wir übernachteten, gehörte diesen Schwestern in der Hauptstadt Estlands. Eine Heilige so hoch im Norden?

Birgitta, eine Frau aus dem 14. Jahrhundert, war Mutter, Ehefrau, eine tief gläubige Frau, und eine kritische Frau schon als ihr Mann noch lebte, mit dem sie nach Norwegen und nach Santiago de Compostela in Spanien pilgerte. Die beiden hatten Europa und seine Kirchenspaltungen kennengelernt. Nach dem Tod ihres Mannes begann sie ein asketisches Leben und war von den Offenbarungen Christi beseelt, von einer tiefen Verbindung mit Christus. Sie blieb, und das beeindruckt mich umso mehr, nicht bei der Kritik stehen, sondern bemühte sich, wenn auch scheinbar vergebens, zu verbinden, was auseinander zu fallen drohte. Sie bewährte sich als Beraterin von Königen und zweier Päpste und wirkte mit an der Friedenspolitik im Krieg zwischen England und Frankreich. In Rom gründete sie ein Hospiz für Pilger und engagierte sich für Frauen am Rande der Gesellschaft.

«Innen und aussen» war bei Birgitta von Schweden eines. Tiefe Frömmigkeit und Liebe zur Einheit unter den Menschen. Von dieser engen Verbindung lesen wir auch im Evangelium im Bild der Rebe und des Weinstocks. Die Rebe vermag nichts ohne die Verbindung zum Weinstock. Jede Gärtnerin weiss das. «Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht.» Ohne die Kraft und Unterstützung Gottes kommen wir allzu schnell an unsere Grenze. Die innere göttliche Quelle sucht uns vielleicht. Ein Zitat der Heiligen lautet:

«Was ist Gott anderes denn Leben und Lieblichkeit, leuchtendes Licht, unvergängliche Güte, richtende Gerechtigkeit und heilendes Erbarmen.»

Gut ist es, nur eines dieser Worte immer wieder zu meditieren und in sich aufzunehmen beim Spazieren oder Dösen in der Hitze.

In dieser Zeit, in der man den Eindruck bekommen kann, dass alles auseinanderbröselt, scheint eine neue Kraft zu werden: Wir bekamen durch die Coronakrise das Gespür dafür, dass wir aufeinander angewiesen sind. Oder plötzlich haben wir Farbige und Weisse im gleichen Blick, im gleichen Gesichtsfeld und in gleicher Würde. «Was ist Gott anderes denn Leben …» – mein, dein, sein, ihr Leben. Wir mögen unterschiedlich sein und unsere Sympathien und Antipathien haben. Aber wir sind mehr als das: Wir alle tragen in uns die Freude Gottes an uns.

Anna-Marie Fürst, Theologin, arbeitet in der Gefängnisseelsorge Basel-Stadt