12.09.2019 – Editorial

Vom Bettag zum Wahltag

Nur gerade fünf Wochen liegen zwischen dem Eidgenössischen Bettag am 15. September und den National- und Ständeratswahlen vom 20. Oktober. Was heisst das wohl für den Bettag 2019? Werden Kandidatinnen und Kandidaten der Versuchung widerstehen, diesen Tag des Dankes, der Busse und des Gebets für Werbung in eigener Sache zu nutzen?

Die Erfahrung der letzten Jahre und Jahrzehnte zeigt, dass Politiker und Politikerinnen den Bettag zunehmend als Anlass für politische Botschaften entdeckt haben. Nicht nur Bundesratsauftritte in Kirchen gehören dazu. Auch die seinerzeitigen Bestrebungen für einen autofreien Bettag waren Ausdruck von politischen Überzeugungen. Zeitgemässer wäre heute im Zeichen des Klimaschutzes vielleicht ein Vorstoss für einen flugfreien Bettag. Für die einen wäre das eine Wohltat, für die andern ein Ärgernis.

Wie der Blick in die Geschichte zeigt, sind politische Nebenabsichten beim Bettag überhaupt nichts Neues. So passte die Einführung eines landesweiten Bettags durch die Tagsatzung im Jahr 1832 ganz zum Ziel, die Gegensätze zwischen Reformierten und Katholiken in der Schweiz abzubauen und so den Weg in Richtung Bundesstaat zu ebnen. Bekanntlich führte dieser Weg dann doch in einen Bürgerkrieg. Aber vielleicht trug der Gedanke des
Bettags dazu bei, dass der Sonderbundskrieg von 1847 kurz und glimpflich verlief, dass die Sieger ihren Triumph nicht rücksichtslos ausschlachteten und die Verlierer nicht alle Brücken zur Gegenseite abbrachen.

Ob wir heute aus der Politik auch so fruchtbare Beiträge zum Bettag erwarten dürfen? Mit Sicherheit sind am Bettag nicht Wahlkampf­reden gefragt, sondern Worte, die aus der
Besinnung kommen. Dazu werden hoffentlich am diesjährigen Bettag auch Stimmen aus den christlichen Kirchen beitragen, vielleicht auch Stimmen aus den anderen Glaubensgemeinschaften. Sie können zeigen, was ihre Beziehung zu Gott für das Zusammenleben unter den Menschen bedeutet. Stand in der Zeit um 1832 in der Schweiz das Verhältnis von «katholisch» und «reformiert» im Brennpunkt, so liegt heute auch im Gespräch mit den Angehörigen nichtchristlicher Religionen und mit den Konfessionslosen ein grosses Potenzial für die Zukunft unseres Landes.

Der Wahltag vom 20. Oktober entscheidet darüber, wie Parlament und Regierung in den nächsten vier Jahren zusammengesetzt sein werden. Die Besinnung am Bettag kann dazu beitragen, dass Sieger und Verlierer sich ihrer Gemeinsamkeiten bewusst bleiben.

Christian von Arx