22.11.2018 – Editorial

Freude an unserem Buch der Bücher

«Darum handelt die katholische Kirche von ­ihrem Standpunkt aus ganz korrekt, wenn sie das Lesen der Bibel den Laien verbietet.» So konnte der deutsche Sozialist August Bebel noch 1874 schreiben. Natürlich tat er es in polemischer Absicht, und es stimmte zu diesem Zeitpunkt nicht mehr: Von 1830 an brachte der bayrische Priester Joseph Franz von Allioli erstmals mit päpstlicher Druckerlaubnis eine vollständige deutsche Bibelübersetzung heraus. Diese Allioli-Bibel erreichte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein sehr viele Katholiken deutscher Sprache.

Aber Bebels Seitenhieb an die katholische Kirche war durchaus nicht unbegründet. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts erachtete Rom allein die lateinische Bibel als verbindlich. Noch 1816 bekämpfte Papst Pius VII. Übersetzungen in die modernen Sprachen und hielt es für gefährlich, wenn die Laien durch Bibelausgaben in ihren Muttersprachen in die Lage versetzt wurden, die Bibel selber zu lesen.

Damit hatte Pius VII. natürlich recht: Eine Bibel in der Hand lesender Christinnen und Christen ist gefährlich! Wer die Welt und die Kirche an der Bibel misst, kann zur Erkenntnis kommen, dass vieles an ihrem heutigen Zustand in Frage gestellt und geändert werden muss. Und dass es eine höhere Autorität gibt als diejenigen, die auf Erden beanspruchen, die höchste Autorität zu sein.

Für die Reformatoren war es schon vor 500 Jahren zentral, dass jeder und jede die Heilige Schrift selber lesen konnte. Dazu brauchte es die Bibelübersetzungen von Zwingli, Luther und anderen. Erst im 19. Jahrhundert entstand eine katholische Bibelbewegung, die eben das zum Ziel hatte: Das Wort Gottes unter Gottes Volk zu bringen.

Heute unterstützt das auch die amtliche Kirche. «Der Zugang zur Heiligen Schrift muss für die an Christus Glaubenden weit offenstehen», formulierte das II. Vatikanische Konzil 1965. Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder und Gebiete zitieren diese Forderung im Vorwort zur revidierten Einheitsübersetzung der Bibel von 2016, die ab dem ersten Advent in den Gottesdiensten gelesen wird.

Die neuste Revision hat unseren gewohnten Bibeltext nach bald vierzig Jahren vollständig überprüft und an vielen Stellen verbessert, jedenfalls anders formuliert. Wer sie zur Hand nimmt, wird vielleicht manches neu entdecken, was er bisher anders oder gar nicht verstanden hat. Nutzen wir unser Recht, das Buch der Bücher selber zu lesen! Auch wenn es gefährlich ist.

Christian von Arx