06.02.2020 – Leserreaktionen

Verkehrtes Christentum

Zu «Der emeritierte Papst sorgt für Wirbel» («Kirche heute» Nr. 5–6/2020)

Unfassbar! Benedikt XVI. bricht sein Schweigen und sein Versprechen gegenüber Papst Franziskus: Damit fällt er seinem Nachfolger in den Rücken. Wie kommt ein Nachfolger Jesu dazu, sich so zu verhalten?

Jesus von Nazareth initiierte eine innerjüdische, romkritische Erneuerungsbewegung unter dem kategorialen Rahmen des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit. Die Bewegung endete drei Jahrhunderte später in der Erhebung zur Staatsreligion des von ihr kritisierten Imperium Romanum. Dies konnte nur geschehen um den Preis der Verkehrung ins Gegenteil unter Missachtung des von Jesus vorgegebenen Rahmens. Es ist eine Verkehrung des Christentums.

Wie würde Jesus reagieren auf Sätze wie «abwegige Einlassung, Theatralik, diabolische Lügen und im Modetrend liegende Irrtümer»? Solche Aussagen sind Ausdruck eines extrem verkehrten Christentums. Wenn man davon ausgeht, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt und nicht umgekehrt das Bewusstsein das Sein, dann kommt man zum Schluss, dass ein verkehrtes Sein ein verkehrtes Bewusstsein erzeugt. Wer aber am verkehrten kategorialen Rahmen des Christentums festhält und ihn zum einzigen Wahrheitskriterium erhebt, fällt unter die Kategorie der Verblendung, einer Verblendung, die alle, die das verkehrte Christentum bekämpfen, zu Häretikern macht und sie verurteilt mit «abwegig» und «diabolisch». Dabei wird geflissentlich übersehen, dass die wahren Irrtümer auf einer ganz anderen Seite liegen.

Ludwig Börne schreibt: «Einen Wahn aufgeben macht weiser als eine Wahrheit finden.» Ohne die Aufgabe des Wahns einer verkehrten Christenheit werden wir die Wahrheit des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit für diese Erde nicht finden. In diesem Sinn brauchen wir eine «abwegige» Zukunft zur vollständigen Erneuerung unserer Kirche.

Walter Bochsler, Birsfelden