Ein Bruch – und vieles ist nicht mehr wie zuvor (Bild: Felssturz in einem Steinbruch bei Raron VS, 29.1.2021). | © Kantonspolizei Wallis
Ein Bruch – und vieles ist nicht mehr wie zuvor (Bild: Felssturz in einem Steinbruch bei Raron VS, 29.1.2021). | © Kantonspolizei Wallis
28.08.2021 – Impuls

1. Brief des Johannes 4,7–12

Geliebte, wir wollen einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott und jeder, der liebt, stammt von Gott und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe. Darin offenbarte sich die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben. Darin besteht die Liebe: Nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat. Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben. Niemand hat Gott je geschaut; wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns und seine Liebe ist in uns vollendet.

Einheitsübersetzung 2016

 

Uns selbst mit unseren Brüchen annehmen

Fünfzehn Jahre lang lebte er in einer verbindlichen Beziehung zu einer Frau. Mit ihr hatte er einen Sohn. Dann trennten sich Vater und Sohn von dieser Frau. Ob das in gemeinsamer Entscheidung geschehen ist, wissen wir nicht. Jedenfalls hatten sich die Welten auseinanderentwickelt, und eine weitere gemeinsame Zukunft war nicht mehr möglich.

Ja, die Liebe kann sterben, denn sie ist etwas Lebendiges. Und damit ist sie dem Kreislauf des Entstehens und Vergehens unterworfen. Und was machen Menschen, denen das Band der Liebe zerbrochen ist? Natürlich können sie weiterhin zusammenbleiben, vielleicht in Freundschaft, vielleicht in Gleichgültigkeit. Vielleicht aber verharren sie auch im Schmerz und in der Trauer um den Tod der Liebe, und sie geben einander die Schuld, Tag für Tag in einem zermürbenden Miteinander, das sie nicht zusammenkommen, aber auch nicht Abschied nehmen lässt.

Augustinus hat erkannt, dass für ihn der Zeitpunkt gekommen war, um seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. «Bekehrung» nennt er diesen Zeitpunkt. Wir dürfen wohl annehmen, dass er mit seiner Frau gerungen hat, sie gebeten hat, seine Hinwendung zum Christentum mitzumachen. Aber all seine Überzeugungskraft hat ihm nichts genützt. Die Trennung war unausweichlich. Beide waren römische Nordafrikaner, lebten aber in Italien. Er und sein Sohn blieben, die Frau ging zurück in ihre Heimat.

Wir wissen nicht, wie einvernehmlich und versöhnlich diese Trennung war. Dass die Mutter ihren 15-jährigen Sohn für immer loslassen musste, wird ihr unendlich schwergefallen sein. Es war ihr ein doppelter Liebesverlust. «Pass auf unseren Sohn auf!», wird sie gesagt haben. Und zwei Jahre später bekam sie die Nachricht vom Tod ihres Kindes. Was aus ihr geworden ist, weiss niemand. Man kennt nicht einmal ihren Namen. Der Vater aber wurde weltberühmt.

Es ist nicht an uns, diese Beziehungsgeschichte zu bewerten. Enthalten wir uns jeden Urteils! Beide haben gekämpft, entschieden und die Folgen getragen, je auf ihre eigene Weise. Nehmen wir lieber die Erkenntnis mit, dass Brüche zum Leben gehören und dass auch Beziehungen sterblich sind.

Wie aber kann man mit Brüchen und Verlusten leben? Wir müssen uns selbst und einander die Zeit des Trauerns zugestehen. Den Verlust zu ignorieren und nur nach vorn zu schauen, ist kein guter Rat. Was wir nicht betrauern und damit liebevoll wandeln und dankbar in unser gelebtes Leben integrieren, wird uns mit Sicherheit als Last wieder einholen. Jeder Verlust ist Verletzung, und die Trauer um Verluste ist ein Krankheitsprozess. Niemand kann sagen, ob und wann dieser Weg zur Heilung und Neuorientierung führt.

Die wichtigste Kraft in der Zeit des trauernden Aufarbeitens ist die Zuversicht. Was war, hat seinen Sinn, was kommt ebenso. Es hat Sinn, weil ich, der Gebrochene oder Trauernde, den Wert des Vergangenen sehe und dennoch loslasse. Es hat Sinn, weil ich den Neuanfang in der Kraft der Hoffnung begrüsse.

Augustinus hat viel über die Liebe geschrieben, vor allem über Gott als die Quelle der Liebe. Das war wohl seine Weise der Verarbeitung. Unser eigenes Leben im Licht dieser göttlichen Liebe zu sehen, ist wohl auch für uns die Chance, uns mit allen Brüchen anzunehmen. «Wer Amen ruft, gibt seine Unterschrift», so Augustinus.

Ludwig Hesse, Theologe, Autor und Teilzeitschreiner, war bis zu seiner Pensionierung Spitalseelsorger im Kanton Baselland