Krone der Hildegard von Bingen, 1170er-Jahre: Bortenkrone mit gestickten Medaillons und einer zwischen 1600 und 1650 ergänzten stützenden Haube aus blauem Samt (Abegg-Stiftung, Inv. Nr. 5257). | © Abegg-Stiftung, CH-3132 Riggisberg (Foto : Christoph von Viràg)
Krone der Hildegard von Bingen, 1170er-Jahre: Bortenkrone mit gestickten Medaillons und einer zwischen 1600 und 1650 ergänzten stützenden Haube aus blauem Samt (Abegg-Stiftung, Inv. Nr. 5257). | © Abegg-Stiftung, CH-3132 Riggisberg (Foto : Christoph von Viràg)
19.03.2020 – Aktuell

Unerwarteter Fund: die Krone der Hildegard von Bingen

Die Abegg-Stiftung Riggisberg hat in ihrer Sammlung die einzige Nonnenkrone des Mittelalters identifiziert

Nicht nur Priester und Bischöfe, sondern auch geweihte Jungfrauen sollten ein Ehrenzeichen tragen: Aus diesem Verständnis wünschte die Äbtissin Hildegard von Bingen im 12. Jahrhundert Kronen für die Nonnen ihres Klosters. Jetzt meldet die Abegg-Stiftung in Riggisberg eine sensationelle Entdeckung: Sie hat vor 20 Jahren die Nonnenkrone Hildegards erworben, ohne dass damals jemand wusste, um welch einzigartiges Objekt es sich handelt.

Am 15. April 1999 kam in Neuilly bei Paris ­eine mittelalterliche Kopfbedeckung aus ­Privatbesitz zur Versteigerung. Im Auktions­katalog war sie als «calotte papale ou épiscopale» ausgeschrieben, als Käppchen eines Papstes oder Bischofs. Ein amerikanischer Privatsammler ersteigerte das Objekt. Die Abegg-Stiftung in Riggisberg bei Bern, ein renommiertes Museum mit textilwissenschaftlichem Institut zur Sammlung, Forschung und Restaurierung, liess aber nicht locker und konnte die Kappe im Jahr 2000 für die eigene Sammlung erwerben.

Allerdings konnte die Abegg-Stiftung vorerst weder Herkunft noch Funktion der Kopfbedeckung näher bestimmen. In mehreren Schritten zwischen 2007 und 2019 kamen die Spezialistinnen in Riggisberg zu einer Erkenntnis, die sie «in eine gewisse Atemlosigkeit» versetzte: Was sie in ihrer Sammlung haben, ist eine textile Nonnenkrone, wie sie in den visionären Schriften der Äbtissin Hildegard von Bingen beschrieben ist.

Jetzt dokumentiert die Abegg-Stiftung in einer Ende 2019 erschienenen Monografie mit einer aufwendigen Analyse zahlreicher Schrift- und Textilquellen, dass es sich um die Krone der Hildegard von Bingen handelt – die einzige bekannte Nonnenkrone aus dem Mittelalter. Vor rund 850 Jahren geschaffen, wurde sie nach Hildegards Tod jahrhundertelang in Trier als Reliquie verwahrt. Ihr Verbleib zwischen einer Plünderung durch französische Truppen 1794 und der Versteigerung von 1999 ist bisher unbekannt.

Hildegards Konzept einer Krone

Warum hatte Hildegard als Benediktinerin eine Krone? Mit Zitaten aus den Werken und dem Briefwechsel von Hildegard können die Autoren Philippe Cordez und Evelin Wetter zeigen, dass die Äbtissin das Konzept einer Krone für die Frauen des von ihr gegründeten Klosters Rupertsberg selbst entworfen hat und ihm eine weitreichende Bedeutung gab.

Ihre Nonnen wurden beim Ritual der Jungfrauenweihe gekrönt, als Zeichen ihrer Vermählung mit Christus. Das war eine Neuerung, die zu jener Zeit nachhaltiges Aufsehen erregte. So wurde Hildegard von der Klostervorsteherin Tengswich (oder Tenxwind) von Andernach in einem Brief von 1150/1152 wegen der «golddurchwirkten Kränze» (coronae) kritisch zur Rede gestellt. Hildegards Antwort ist ebenso erhalten wie ein weiterer Brief, in dem sich 1175/1177 der Benediktinermönch Wibert von Gembloux erneut nach dem Grund für die Kronen erkundigte.

Für Cordez und Wetter steht fest, dass die Krone für Hildegard mehr als blosser Schmuck war, sondern ihrer Vision der Kirche Ausdruck gab. Hildegard nahm es nicht hin, dass es im Ornat aller Kleriker Zeichen ihres Ranges wie Stola, Pallium oder Mitra gab, nicht jedoch für die geweihten Jungfrauen. Das hat sie in ihrem Kloster geändert. Die Autoren deuten den von Hildegard angeordneten weissen Schleier und die textile Krone als «weibliche Entsprechung zu den männlichen Insignien» und stellen sie vor den Hintergrund der kirchenrechtlichen Entwicklungen in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts: Als Äbtissin stärkte Hildegard mit ihren Mitteln die Stellung der Klosterfrauen, nachdem das 2. Laterankonzil von 1139 die Trennung zwischen Klerus und Laien verschärft und in diesem Zug den Nonnen das gemeinsame Chorgebet und Psalmensingen mit Klerikern und Mönchen verboten hatte.

Die Stellen in Hildegards Werken über die Kopfbedeckung der Nonnen sind seit Langem bekannt. Neu zeigt nun die Forschung der Abegg-Stiftung, dass die Nonnenkrone nicht Vision blieb. Cordez und Wetter kommen zum Schluss, dass die erhaltene Bortenkrone in Hildegards direktem Umfeld oder unter ihrer Anleitung entstanden ist – ob im Kloster selbst oder in der näheren Umgebung, lassen sie offen. Indizien sprechen für eine Entstehung gegen Hildegards Lebensende. Die Äbtissin starb 1179 im hohen Alter von 81 Jahren, hoch angesehen und verehrt. Die Autoren der Monografie vermuten, dass die erhaltene Krone als kostbares Einzelstück im Rahmen der Bemühungen entstand, die betagte Hildegard zu würdigen.

Bortenkrone mit bestickten Medaillons

Um sich das ursprüngliche Aussehen der Nonnenkrone vorzustellen, muss man die Kappe aus blauem Samt wegdenken. Sie wurde nach dem Befund der Abegg-Stiftung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Stützkonstruktion ergänzt. Sie überdeckt eine innere Haube aus grüner Seide, die etwa um 1400 eingenäht worden war.

Krone der Hildegard von Bingen: Mit Goldfäden gesticktes Medaillon auf der Stirnseite, Lamm Gottes mit Kreuzstab (Abegg-Stiftung, Inv. Nr. 5257). | © Abegg-Stiftung, CH-3132 Riggisberg (Foto : Christoph von Viràg)

Zur Zeit Hildegards wurde die Krone ohne Haube über einem weissen Schleier getragen. Sie besteht aus drei weissen Seidenbändern (Borten): Eines läuft um den Kopf herum, die zwei andern kreuzförmig über den Kopf der Trägerin. Die fünf Kreuzungspunkte der Seidenbänder sind mit gold- und silberbestickten Medaillons geschmückt. Diese zeigen ein Symbol der Dreifaltigkeit (auf dem Scheitel), das Lamm Gottes mit Kreuzstab (auf der Stirn), einen Cherub und einen Engel mit Lilienzepter (auf den Seiten) und einen König mit betend erhobenen Händen (im Nacken). Vom Medaillon der Dreifaltigkeit laufen ­schmale Goldborten zu den vier Medaillons auf dem umlaufenden Band. Dieses Bildprogramm ist in Hildegards Visionsbuch «Scivias» («Wisse die Wege») beschrieben. Die Seidenbänder zeigen Motive mit stilisierten Bäumchen, Vögeln und Löwen.

Die weitere Geschichte der Krone

Nach Hildegards Tod am 17. September 1179 kamen ihre Krone, Schleier und Haare als Reliquien in die Benediktinerabtei St. Matthias in Trier, zu der Hildegard enge Beziehungen unterhielt. Sie sind in Reliquienverzeichnissen vom 14. bis ins 18. Jahrhundert aufgeführt und wurden in Trier gezeigt und verehrt. Was nach der letzten schriftlichen Erwähnung 1793 mit ihnen geschah, ist nicht bekannt. Das Kloster St. Matthias wurde 1794 von französischen Soldaten geplündert und 1802 aufgelöst. Als die Krone 1999 an der Versteigerung in Neuilly auftauchte, soll sie einer adligen Familie in der Region Avignon gehört haben.

Die neue Monografie der Abegg-Stiftung erzählt die aufregende Geschichte dieses Kunstwerks. Das Fazit der Autoren Philippe Cordez und Evelin Wetter lautet: «Hildegard von Bingen hat als Teil ihrer visionären Reform das Konzept einer Krone entworfen, die zeichenhaft die starke Rolle der Frauen in der christlichen Gesellschaft ihrer Zeit demonstrieren sollte. Wohl als Krönung ihres langen Lebens wurde ein solches Insigne, kostbar und einmalig, für sie realisiert.»

Die Nonnenkrone der Hildegard von Bingen ist in der Abegg-Stiftung in Riggisberg ausgestellt. Nach der saisonalen Schliessung im Winterhalbjahr ist das Museum vom 26. April bis 8. November täglich von 14 bis 17.30 Uhr geöffnet (Infos: abegg-stiftung.ch).

Christian von Arx

 

Philippe Cordez und Evelin Wetter: Die Krone der Hildegard von Bingen. Monographien der Abegg-Stiftung 21. Riggisberg, 2019. 136 Seiten, 40 Abbildungen. Bezugsquelle: abegg-stiftung.ch.