25.03.2021 – Editorial

Tonspur des Lebens

Als Teenager konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich irgendetwas zustande bringen könnte ohne musikalische Unterstützung. Ohne Tonbandgerät und Radio ging nichts, schon gar nicht die etwas unangenehmeren Dinge wie Hausaufgaben. Und so büffelte ich die ungeliebten Französischvokabeln (oder tat wenigstens so als ob), während englischsprachiger Gesang mein Zimmer erfüllte. Kein Wunder, war ich in Englisch immer viel besser als in Französisch …

Weil Schallplatten (und auch bespielte Tonbandkassetten) im Verhältnis zu unseren bescheidenen Einkünften relativ teuer waren, behalfen wir uns selbst und verbrachten unzählige Stunden damit, unsere Lieblingsstücke ab Radio aufzunehmen. Und diese individuellen Sammlungen habe ich dann so viele Male abgespielt, dass ich intuitiv noch heute abrufen kann, welches Stück jeweils als nächstes kommt.

Die Musik von damals ist verknüpft mit dem Lebensgefühl von damals. Wir liebten es, «unsere» Musik laut abzuspielen, im Idealfall so laut, dass sie alles andere übertönte. Dabei ging es längst nicht (nur) um die Musik. Sie war für uns Mittel zum Zweck: Wir gaben damit den Ton an, jedenfalls solange niemand einschritt, und wir benutzten sie, um alles auszublenden, was uns nicht passte oder nicht interessierte.

Durch den Frühlingswald wandern und den Vögeln lauschen? Also wenn wir da schon mitmachen mussten, dann begleitet durch unseren Sound. Zum Beispiel «Relics» von Pink Floyd, eine in den 1960er-Jahren entstandene Kollektion höchst unterschiedlicher Songs, die mit eigenwilligen Klängen heute noch überraschen. Und so kam es, dass wir im Schlepptau unserer Eltern durch den Wald zottelten und das Vogelgezwitscher nicht live, sondern via «Cirrus Minor» aus dem Ghettoblaster vernahmen. Und in der Übergangszeit zwischen Kindheit und Erwachsenwerden sprachen diese Zeilen aus «Remember a day» uns aus dem Herzen: «Why can’t we play today, why can’t we stay that way …» (Warum können wir heute nicht spielen, warum können wir nicht so bleiben).

Seit jenem Waldspaziergang sind viele Jahre vergangen, in denen ich durch praktische Erfahrung gelernt habe, dass Musik zwar hilft, den Aufenthalt auf dem Zahnarztstuhl entspannter zu überstehen oder auch Dampf abzulassen, aber ihr Ablenkfaktor bei anderen Dingen hinderlich ist. Beim Nachdenken beispielsweise. An Anlässen, die nachdenklich stimmen, mangelt es ja nicht.

Regula Vogt-Kohler