02.05.2019 – Editorial

Terror

Als mich die Nachricht vom Brand in der Notre-Dame erreicht, ist meine erste Reaktion «Oh, nein, das darf nicht wahr sein!» Mein nächster Gedanke ist nicht weniger irrational: «Jetzt ist es passiert, das ist doch wohl ein Terroranschlag. Gibt es denn überhaupt ein prominenteres Ziel?» Höchste Zeit, den etwas überlegteren Bereich des Gehirns einzuschalten, was angesichts der weltweiten Bestürzung über das Inferno in der berühmten Pariser Kathedrale gar nicht so einfach ist.

Eine Bemerkung, die beim Mittagessen am Ostersonntag fällt, rückt die Dinge wieder ins Lot der Vernunft: «Es war doch einfach ein Gebäude, und niemand ist gestorben!» Natürlich ist die Notre-Dame mehr als «einfach ein Gebäude», mehr als eine Touristenattraktion, auch mehr als eine Kirche, sonst wären die heftigen Reaktionen nicht erklärbar. Eine wesentliche Rolle dürfte dabei spielen, dass die Notre-Dame uns buchstäblich naheliegt. Viele von uns standen schon vor und in der Kathedrale, zusammen mit Hunderten anderen Touristen und Einheimischen. Für manche ist die Notre-Dame die erste Begegnung mit einer Sehenswürdigkeit in einer ausländischen Metropole.

Am Ostersonntag treffen aus dem nicht nur geografisch wesentlich ferneren Asien grauenvolle Meldungen ein, die deutlich machen, worum es bei Terror geht: die Verbreitung von Angst und Schrecken durch blutige Attacken. 253 Frauen, Männer und Kinder sterben in Sri Lanka in Kirchen und Hotels, ganze Familien kommen im Ostergottesdienst ums Leben.

Warum? Angesichts der Tatsache, dass Christen in Sri Lanka eine kleine Minderheit sind, scheint es keinen Sinn zu machen, dass gerade sie zum Angriffsziel wurden. Die Interpretation, der Anschlag sei ein Racheakt für die Angriffe auf betende Muslime im neuseeländischen Christchurch, macht die Anschläge etwas erklärbarer, aber nicht weniger abscheulich.

In der NZZ am Sonntag stellt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze das Feindbild der radikal-islamistischen Terroristen klar: «Der Feind ist nicht der Christ, nicht der Buddhist oder sonst jemand. Der Feind ist alles, was sie nicht sind.» Dies steht in Übereinstimmung mit einer Meldung, wonach Moscheen der friedliebenden Sufis nächste Angriffsziele sein könnten.

Regula Vogt-Kohler