20.08.2020 – Editorial

Sehen, was ist

Manche Dinge geschehen so langsam, dass sie von blossem Auge nicht zu erkennen sind. Das heisst aber noch lange nicht, dass nichts zu sehen ist. Auch Entwicklungen, die über eine lange Zeit hin ablaufen, zeigen irgendwann Veränderungen, die selbst einem Beobachter mit ungeschultem Blick ins Auge springen. Wo bisher nichts war, ist «plötzlich» etwas aufgetaucht, wo lange etwas war, fehlt nun ein Teil des gewohnten Bildes.

Wer einen Gletscher betrachtet, sieht definitionsgemäss eine sich bewegende Eismasse. Einen Hinweis auf das Fliessen gibt auch die Bezeichnung Eisstrom. Aus der Ferne ist es allerdings schwer, einen Gletscher als etwas Lebendiges, sich ständig Veränderndes wahrzunehmen. Ganz anders ist der Eindruck bei der Begegnung aus nächster Nähe. Was von Weitem wie eine statische Ansammlung von Eis aussieht, fühlt sich direkt unter den Füssen respektive Bergschuhen als etwas überraschend Dynamisches an.

Vieles spielt sich, teilweise nicht sichtbar, im Untergrund ab. Dort gurgelt und rumpelt es, und das Eis schimmert in den unterschiedlichsten Farbtönen. Zwar schwankt der Boden beziehungsweise die Eisfläche nicht, dennoch hat man zuweilen das Gefühl, sich auf einer Art Schiff zu befinden. Und man stellt auch schnell fest, dass es unterschiedliche Arten von Eis gibt. Wer in anspruchsvollem Gelände unterwegs ist, ist gezwungen, genau hinzusehen, um mögliche Gefahren zu erkennen.

So wie sich Gletscher ständig verändern, hat sich auch der menschliche Blick auf sie gewandelt. Empfanden die Menschen in früheren kühleren Zeiten die bis an den Rand des besiedelten Gebietes vorrückenden Gletscher verständlicherweise als Bedrohung, so sind die sich nun zurückziehenden Eisströme zu einer Art Traueranzeige für die negativen Auswirkungen des Klimawandels geworden. «Ihr Sterben schmerzt nicht nur Herz und Auge», schreibt dazu der WWF Schweiz. Mit den Gletschern gehe auch ein Mythos zugrunde: «Das Gesicht der Alpen wird nie mehr dasselbe sein wie heute.»

In den Schweizer Alpen wimmelt es von Bergnamen mit Adjektiven, die sich auf Farben beziehen. Oft spielt das Gestein eine entscheidende Rolle, ob ein Gipfel Schwarz- oder Weisshorn heisst. In manchen Fällen nimmt die Bezeichnung aber auch auf die Vergletscherung Bezug. So heisst der verfirnte Nordgrat des Piz Bernina Biancograt. Noch passt der Name – wie lange noch?

Regula Vogt-Kohler