Scalabrinis Vision: Flucht und Migration in biblischer Zeit und heute (Darstellung von Luigi Zonta in der Kirche San Pio X in Basel, 2002). | © Pfarrei San Pio X, Basel
Scalabrinis Vision: Flucht und Migration in biblischer Zeit und heute (Darstellung von Luigi Zonta in der Kirche San Pio X in Basel, 2002). | © Pfarrei San Pio X, Basel
06.10.2022 – Aktuell

«Die Zeichen der Zeit sehen und das Positive erkennen»

Am 9. Oktober wird Giovanni Battista Scalabrini, der «Vater der Migranten», heiliggesprochen

In der grossen Auswanderungswelle seiner Zeit erkannte der italienische Bischof Giovanni Battista Scalabrini (1839–1905) die Notwendigkeit der Emigrantenseelsorge. Am 9. Oktober wird der «Vater der Migranten» von Papst Franziskus heiliggesprochen. P. Valerio Farronato und Mirella Martin von der Pfarrei San Pio X in Basel erklären, warum Scalabrini auch für die Schweiz wichtig ist.

 

In der Kirche San Pio X in Basel gibt es ein grosses Bild mit Scalabrini – warum?

Valerio Farronato und Mirella Martin: Weil seit 1946 Scalabrini-Missionare in der Pfarrei tätig sind. Die Kirche wurde 1963 eingeweiht, das Bild wurde im Jahr 2002 ergänzt für das 100-Jahr-Jubiläum der italienischen Mission in Basel 2003. Das Werk des Künstlers Luigi Zonta, eines Salesianer-Bruders, zeigt eine prophetische Vision der Mission in der ganzen Welt, mit der Flucht aus Ägypten als biblischem Ausgangspunkt. Wir erhalten häufig Anfragen von Scalabriniani auf der ganzen Welt für Fotos von dieser Darstellung.

Ist Scalabrini für die Angehörigen der Pfarrei San Pio X heute noch eine vertraute Figur?

Er ist sicher nicht so populär wie etwa der heilige Antonius, Mutter Theresa oder Padre Pio. Aber was er gelebt und empfohlen hat, das ist auch hier verstanden und weitergegeben worden. Unsere Pfarreiangehörigen wissen, dass Scalabrini etwas Wichtiges für die Migration geleistet hat und dass er auch heute aktuell ist: Er hat nicht nur die Probleme und die negativen Seiten der Migration gesehen, sondern sie aus dem Glauben heraus auch als Bereicherung gesehen. Für Scalabrini verwirklicht sich mit der Migration auch der Plan Gottes. Sein Wort «Die Welt zu einer Heimat für den Menschen machen» ist das Motto der ganzen Scalabrini-Familie für das Scalabrini-Jahr.

Was bedeutet Scalabrini für die Italiener in der Schweiz?

Scalabrini und die Schweiz: Da denken wir nicht nur an die Italiener, sondern auch an Migranten aus anderen Ländern, zum Beispiel Spanier und Portugiesen. In der Zeit von den 1950er- bis zu den 1980er-Jahren waren bis zu 45 Scalabrini Missionare an vielen Orten in der ganzen Schweiz tätig, sie waren ein Modell für die Mission überhaupt. Heute sind in Basel, Bern, Genf, Chur oder Neuenburg und La Chaux-de-Fonds noch insgesamt 23 Scalabrini-Missionare (darunter zwei Pensionierte) präsent. Zwei Schwestern der Frauenkongregation in Neuenburg und zehn Missionarinnen vom Säkularinstitut in Basel und Solothurn arbeiten unter anderem in der christlichen Bildung junger Menschen und in der Flüchtlingsseelsorge. Der Regionalverantwortliche der Scalabrini-Missionare in Europa und Afrika hat seinen Sitz in Basel.

Scalabrini reiste 1901 in die USA und 1904 nach Brasilien, um selbst zu sehen, wie die Auswanderer lebten. War er auch einmal in der Schweiz? 

Scalabrini befasste sich vor allem mit der Mission in Nord- und Südamerika (wohin ja auch Schweizer auswanderten). Für die Seelsorge in den europäischen Einwanderungsländern engagierte sich zu seiner Zeit Geremia Bonomelli, der Bischof der Nachbardiözese Cremona, mit dem er in engem Austausch stand. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts übernahmen die Scalabriniani dann die Mission in der ganzen Welt. Scalabrini hatte aber eine persönliche Beziehung zur Schweiz: Er wuchs in der Provinz Como nur etwa 10 Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt auf, und seine Mutter war Tessinerin. Er hatte Verwandtschaft in der Schweiz.

Warum ist Scalabrini für die weltweite Kirche wichtig?

Aufgrund seiner Erfahrungen reichte Scalabrini 1905 Papst Pius X. ein Memorandum ein, in dem er schrieb, dass die Seelsorge für die Auswanderer aller Länder eine Sorge der Kirche sein müsse. Der Papst schuf daraufhin ein Dikasterium für die Emigrantenpastoral, das heute Teil des Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen ist. Für die Weltkirche ist Scalabrini der «Vater der Migranten».

Was ist heute in der Auswanderermission bei uns anders als zur Zeit von Scalabrini?

Scalabrini hat am Bahnhof von Mailand die Menschen gesehen, die mit dem Zug nach Genua und von dort mit dem Schiff nach Amerika fuhren. Diese Bilder haben ihn belastet, sie waren der Anlass zu seinem Einsatz für die Emigrantenseelsorge. Heute sehen wir die Bilder von den Menschen, die nach Europa gelangen möchten, oder von Mexiko in die USA. Damals gab es bei vielen Auswanderern eine grosse finanzielle Not. Das gibt es immer noch, aber nicht mehr so oft wie damals. Die Situation der heutigen Expats zum Beispiel ist eine andere. Aber im Ausland eine neue Heimat zu finden und eine Beziehung zu Sprache und Kultur des neuen Aufenthaltslandes aufzubauen – «una casa lontano da casa», wie wir sagen –, das ist immer schwierig, auch heute. Die Schwierigkeit ist, eine Brücke zu bauen und sich nicht abzukapseln – und dies gilt für diejenigen, die ankommen, ebenso wie für diejenigen, die Migranten empfangen.

Was bleibt von Scalabrinis Vision für die Auswandererseelsorge?

Migration ist nicht nur ein Problem, es ist auch eine Chance. Die Aufgabe als Missionare ist, nicht nur für die Migranten etwas zu tun, sondern mit ihnen. Das ist auch eine Chance und eine Aufgabe für die ganze Kirche. Scalabrini empfiehlt, überall Kontakt zu suchen, auch zur Kultur und Sprache des Ortes, wo man lebt. Man soll die Kultur seiner Muttersprache leben, aber nicht die Kultur der neuen Umgebung ablehnen.

Was war Scalabrini für ein Mensch?

Ein Mann des Gebets. Er verstand es, Politik und soziales Engagement mit Mystik zu verbinden. Er hat zwar unglaublich viel gearbeitet, zum Beispiel hat er in seiner Amtszeit als Bischof von Piacenza fünfmal Pastoralbesuche in allen Pfarreien seiner Diözese gemacht – ohne Auto. Dabei hat er erkannt, wieviele seiner Gläubigen ausgewandert sind, und daraus den Schluss gezogen: Da muss ich etwas tun! Er reiste auch viel in Italien und Frankreich und hielt Vorträge zum Problem der Migration. Er hatte Beziehungen zur Politik, seine Anregungen führten zur ersten Migrationsgesetzgebung in Italien. Bei aller Aktivität blieb er ein Mann des Gebets.

Was bedeutet Scalabrini Ihnen persönlich?

Valerio Farronato: Scalabrini ist aktuell, Migration ist ein Hauptproblem unserer Zeit. Die Kirche muss die Zeichen der Zeit erkennen – Scalabrini hat uns dafür ein Beispiel gegeben. Und: Er hat auch in den schlimmsten Situationen immer eine positive Seite gesehen.
Mirella Martin: Die Zeichen der Zeit zu sehen und darin immer etwas Positives zu entdecken, das ist für mich eine echte Herausforderung.

Reisen Sie beide für die Heiligsprechung am 9. Oktober nach Rom?

Natürlich! Die Scalabrini-Familie hatte für 2022 ein Scalabrini-Jahr organisiert, weil es 25 Jahre seit seiner Seligsprechung sind. Niemand von uns ahnte, dass er in diesem Jahr heiliggesprochen würde. Aber Papst Franziskus hat die Scalabriniani in Buenos Aires gut gekannt; er stammt ja selbst aus einer Auswandererfamilie, und das Migrationsthema liegt ihm sehr am Herzen. Das Datum der Heiligsprechung wurde erst am 27. August bekanntgegeben. Das war sehr kurzfristig für uns, wir waren fast überrumpelt. Aber vielleicht ist es gut so. Wir freuen uns, dass so viele mitkommen auf die Reise von Basel nach Rom.

Interview: Christian von Arx

 

P. Valerio Farronato CS ist seit 2015 Pfarrer der Pfarrei San Pio X in Basel.
Mirella Martin, Mitglied des Säkularinstituts der Scalabrini-Missionarinnen in Solothurn, arbeitet seit 1994 in der Seelsorge und im Sekretariat der Pfarrei San Pio X.

 

P. Valerio Farronato und Mirella Martin vor dem Scalabrini-Bild in der Kirche San Pio X in Basel. | © Christian von Arx
Auf der Rückreise von der Seligsprechung in Rom 1997 besuchten Missionarinnen Scalabrinis Grab in Piacenza, unter ihnen Mirella Martin (in der rechten Bildhälfte die erste von links in der hintersten Reihe). | © cva/Aus dem Buch «Giovanni Battista Scalabrini Beato», Roma 1998.