16.04.2020 – Editorial

Osterspaziergang

An Ostern 2020 werden wir uns mög­licherweise unser ­Leben lang erinnern, und der Grund dafür ist nicht das einma­lige, durchgehend schöne und frühsommerlich warme Wetter, sondern etwas für das blosse Auge Unsichtbares, dafür umso Unangenehmeres. Das Coronavirus hat einen engen Rahmen gesetzt: Keine öffentlichen Gottesdienste, keine Familientreffen mit fröhlicher Eiersuche, keine Reisen in den Süden oder sonst wohin, strenge Regeln selbst für den Spaziergang im lokalen Umkreis.

Am Ostersonntag läuten schweizweit um zehn Uhr die Kirchenglocken, die Gläubigen sitzen jedoch nicht in den Kirchenbänken, sondern zuhause vor dem Fernsehapparat oder dem Computer. Und in Rom ist der Platz vor dem Petersdom menschenleer. In Zeiten von Corona erleben wir historische Kar- und Ostertage.

Begegnungen draussen zeigen, dass wir uns in der neuen Situation wenigstens einigermas­sen eingerichtet haben. Die Choreografie des Osterspaziergangs 2020 hat ein spezielles Muster: Die Menschen sind nur in kleinen Grüppchen unterwegs, und selbst innerhalb dieser Formationen wird meistens der vorgeschriebene Abstand eingehalten. Gespräche zwischen Einzelpersonen oder Gruppen, die einander antreffen, finden über die gesamte Breite des Weges statt.

Spürbar ist aber auch, wie sehr alle hoffen, dass es bald vorüber sein wird. Wir alle wollen zurück in unser «altes» Leben, wir möchten, dass es wieder «normal» wird. Wann und ob dies überhaupt möglich ist, kann im Moment aber niemand sagen. Ein «Danach» in irgendeiner Form wird es auf jeden Fall geben. Irgendwann wird die akute Krise vorüber sein, auch wenn wir wohl noch lange mit den direkten und indirekten Folgen der Pandemie zu kämpfen haben werden. Paarberaterin Andrea Gross rät, zwischendurch auch mal einen Blick weit nach vorne zu werfen und von dort auf die schwere Zeit zurückzublicken.

Noch aber stecken wir mittendrin. Spitalseelsorgerin Valeria Hengartner fragte sich Ende März, was das Virus mit uns machen wird, wenn es länger dauern wird. Wir alle nehmen die negativen Begleiterscheinungen wahr, an anderen und an uns selbst. Angst, Misstrauen, Gereiztheit, Kontrollwahn haben Hochkonjunktur. Die Schlusszeilen von Goethes Osterspaziergang erscheinen uns im Moment weit weg: «Zufrieden jauchzet gross und klein: Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein.» Umso näher sollte uns die Botschaft von Ostern sein: Das Leben, nicht der Tod hat das letzte Wort.

Regula Vogt-Kohler