17.06.2021 – Editorial

Lola

Am 12. Juni 1970 veröffentlichte die englische Rockband «The Kinks» einen Song, der sich durch einen speziellen Sound, einen eingängigen Refrain und einen thematischen Tabubruch auszeichnet. Bandleader Ray Davies kreierte den metallisch scheppernden Klang durch die Kombination zweier sehr unterschiedlich tönender Gitarren. Das macht das Lied in instrumentaler Hinsicht unverwechselbar, das Revolutionäre steckt jedoch im Text. Dieser erzählt von einem jungen Mann, der eine verwirrende Begegnung erlebt: Lola, die ihn zum Tanzen auffordert, bewegt sich wie eine Frau, spricht aber wie ein Mann.

Einen Tag, nachdem ich das Lied wieder einmal gehört hatte, stolperte ich in den Zeitungen über folgende Titel: «Schweizer zieht es ans Meer …» und «Schnelle Schweizer in Genf». Was vor 51 Jahren keine Fragen aufwarf, sorgt heute für ständiges Stirnrunzeln. Wie sind, aus Sicht der Lesenden, solche Formulierungen zu verstehen? Ist man (als Frau) überempfindlich, wenn man sich nicht automatisch mitgemeint fühlt? «Schweizer» kann ja auch als Adjektiv verwendet werden und sich als solches auf Männer und Frauen gleichermassen beziehen. Dass die vollständige Version «Schweizer Männer und Frauen» für einen Titel zu lang und zu schwerfällig ist, leuchtet mir als Journalistin ein. Als lesende und sportinteressierte Frau stört es mich aber, wenn eine Meldung, in der es um Topresultate von fünf Frauen und eines Mannes geht, unter einem neutral gemeinten Titel daherkommt.

Geschlechtergerechte Sprache war 1970 alles andere als ein breit gestütztes Anliegen, was angesichts der damaligen Mängel in der Gleichstellung nicht überrascht. Die Schweizerinnen waren noch nicht stimm- und wahlberechtigt, und es gab noch das «Fräulein» als gängige Bezeichnung für unverheiratete Frauen. «Lola» wies darauf hin, dass neben der vielbesungenen Heterosexualität noch weitere sexuelle Identitäten existieren. Für einzelne Radiostationen war das zu skandalös: Sie blendeten den Song aus, bevor er Lolas biologisches Geschlecht enthüllte.

Auch wenn heute die Gleichstellung der Geschlechter noch nicht vollständig realisiert ist, sind wir beim Sprachgebrauch schon mehr als einen Schritt weiter. Jetzt geht es um gendergerechte Formulierungen, vieles ist dabei aber noch offen. Abgesehen von sprachlichen Herausforderungen stellt sich auch die Frage, ob «Gendern» mit der Betonung der Unterschiedlichkeit das angestrebte Ziel der Gleichberechtigung erreichen kann.

Regula Vogt-Kohler