07.11.2019 – Editorial

Licht für die Toten, Licht für uns

Ein Erlebnis aus dem Bergdorf Visperterminen ruft sich mir in dieser Jahreszeit in Erinnerung. Eine kalte, klare Novembernacht. Hoch über dem Tal ragten am Hang die Holzhäuser des alten Dorfteils in die Stille. Auf dem Weg zum Versammlungsort fiel unser Blick von oben auf Kirche und Friedhof. Und da: Ein Meer von flackernden Kerzenlichtern, auf jedem Grab eines, liess den Friedhof in der Dunkelheit wie einen dicht bevölkerten Dorfplatz erscheinen. Die Landsgemeinde der Seelen. Rundum bildeten weisse Drei- und Viertausender die stumme Arena. Darüber der Himmel, übervoll von Sternen.

Wie im Wallis, gehört es auch bei uns für viele zur Tradition des Totengedenkens, an Allerheiligen oder Allerseelen die Gräber der Verstorbenen zu besuchen, ihnen vor dem Winter einen schlichten Blumenschmuck oder ein kleines Licht aufs Grab zu bringen. Je länger, je mehr freue ich mich auf diesen wiederkehrenden Termin Anfang November. Es ist ein Fixpunkt im Jahr, eine kleine Auszeit und ein Moment der Ruhe. Die Gedanken an unsere Verstorbenen führen zu einer Selbstvergewisserung. Sie geben uns eine Vorstellung von unserem eigenen Platz in der Zeit, in der Abfolge der Generationen.

Nicht nur die verstorbenen Angehörigen werden uns beim Gang über den Friedhof gegenwärtig, sondern auch manche Bekannte, Nachbarn oder andere Zeitgenossen, selbst wenn sie uns nicht wirklich nahe standen. Vielleicht verstehen wir erst jetzt, was sie uns mitgegeben haben.

Die katholische Tradition von Allerseelen ist ein Totengedenken in Gemeinschaft. So kommt es auf dem Friedhof auch zu Begegnungen mit Lebenden. Ein Gruss, ein Blick, ein kurzes Gespräch vermögen in uns etwas wachzurufen, das im Alltag vielleicht lange Zeit in den Hintergrund gerückt war, aber immer Teil unseres Lebenswegs bleiben wird.

Sich an die Toten zu erinnern, mit ihnen in Beziehung zu bleiben, ist ein menschliches Urbedürfnis. Die Kirche pflegt es. Nicht nur am Fest Allerseelen, sondern im ganzen Jahreslauf schliesst sie die Verstorbenen immer wieder ganz selbstverständlich ins Gebet ein. Während die Toten für die Wirtschaft keine Bedeutung mehr haben, gehören sie in der kirchlichen Gemeinschaft dazu. Das folgt aus dem Glauben an die Auferstehung, und es ist gut für unser Zusammenleben. Das Licht, das wir unseren Toten ans Grab oder an die Urnennische stellen, leuchtet auch uns.

Christian von Arx