Kardinal Francesco Montenegro, Erzbischof von Agrigento, bei seinem Vortrag im Saal der Pfarrei San Pio X in Basel. | © Parrocchia San Pio X
Kardinal Francesco Montenegro, Erzbischof von Agrigento, bei seinem Vortrag im Saal der Pfarrei San Pio X in Basel. | © Parrocchia San Pio X
26.09.2019 – Aktuell

«Lest die Geschichte von heute mit den Augen der Bibel»

Kardinal Montenegro, der «Bischof von Lampedusa», sprach in Basel zur Flüchtlingskrise im Mittelmeer

Mit dem Evangelium als «Brille» sprach Kardinal Francesco Montenegro, Erzbischof von Agrigento, am 13. September in Basel über die afrikanischen Flüchtlinge im Mittelmeer. Der Kardinal aus Sizilien besuchte die italienische Pfarrei San Pio X zum 100-Jahr-Jubiläum der Italienerwallfahrt nach Mariastein.

«Ich bin der Bischof von Agrigento. Manchmal sage ich auch Lampedusa, das kennen alle.» Heute ist die Insel zwischen Sizilien und Tunesien der Brennpunkt der Migration von Afrika nach Europa. Kardinal Montenegro – oder «Don Franco», wie er sich im Gespräch vorstellte – ist als Bischof von Lampedusa mittendrin.

Ganz still war es im Saal der Pfarrei San Pio X in Basel, als der Gast aus Sizilien seine Erfahrungen schilderte. «Das schöne Mittelmeer ist ein Meer des Todes geworden», sagte er. 60 000 Menschen seien bei der Flucht über das Meer ertrunken, davon 30 000, ohne dass irgendjemand davon auch nur Notiz nahm. «Früher starben sie, weil niemand sie rettete. Heute sterben sie, weil niemand sie retten darf.»

Josef und Maria noch immer ohne Herberge

Kardinal Montenegro sprach frei, ruhig, ohne dramatische Rhetorik. Umso eindringlicher wirkte die Anklage in seinen Worten. «Josef und Maria haben nach 2000 Jahren Christentum immer noch keine Herberge gefunden. Wir werfen sie ins Meer.» Südlich des Mittelmeeres gebe es viel Sehnsucht nach Freiheit, nach einem besseren Leben und nach Möglichkeiten, um berufliche Fähigkeiten zu entwickeln. Nördlich des Meeres aber gebe es eine schändliche Politik. «Geld und Waren dürfen die Grenzen überqueren. Menschen nicht.»

Die Reisen der Flüchtlinge aus Afrika seien Reisen der Verzweiflung. «Folter in Libyen: Das sind keine Fantasien», sagte der Kardinal. Zusätzlich zum Geld für den Transport müsse oft mit Prostitution bezahlt werden. Er habe den Bischof von Algier gefragt, was mit den Flüchtlingen passiere, wenn sie nach Afrika zurückgebracht würden. «Seine Antwort: Sie müssen betteln, ins Gefängnis oder in die Wüste – jede der drei Möglichkeiten bedeutet den Tod.»

In Süditalien gebe es Migranten, die in der Hitze Kalabriens einen ganzen Tag für 5 Euro arbeiteten. Ein 16-Jähriger habe ihm gesagt, was ihm am meisten fehle: die Liebe seiner Mutter. Flüchtlinge stellten Einheimischen die Frage: «Warum lächelt ihr nie?»

«Aber wir sind Christen!»

«Das ist eine schwere Geschichte, die uns auffordert, unsere Haltung zu ändern», richtete sich der Kirchenmann aus Sizilien an seine Zuhörer. Das Flüchtlingsproblem sei ein Glaubensproblem. «Für die Politiker ist es ein Ärgernis, aber wir sind Christen!» Nicht die Migration über das Mittelmeer sei das Problem. Das wirkliche Problem seien die Lebensverhältnisse in den Herkunftsländern der Migranten.

Im Gespräch mit den Anwesenden führte Kardinal Montenegro seinen Grundgedanken aus: «Ich bitte euch, lest die Geschichte von heute mit den Augen der Bibel. Die Geschichte des Volkes, das Rettung sucht im gelobten Land, das ist die Geschichte von heute.» Heute würden die Propheten und die Evangelisten ihre Geschichten mit anderen Worten schreiben: Der Pharao, das wären die multinationalen Konzerne. Maria wäre eine Frau, die sagt: Ich bin dabei, ich übernehme meine Rolle. «Wir können die Geschichte verändern, wenn jeder seine Aufgabe erfüllt», sagte der Kardinal. «Es geht nicht darum, Wunder zu vollbringen. Es sind kleine Gesten, die etwas verändern können. Das ist die Sprache von Jesus.»

Orte und Zeichen der Hoffnung

In der Diskussion berichtete eine Scalabrini-Schwester aus Agrigent von der Arbeit mit den Flüchtlingen. In Basel hat sich 2015 in der Pfarrei San Pio X die Gruppe «Senza frontiere» gebildet, deren Mitglieder unter anderem als Freiwillige beim Oekumenischen Seelsorgedienst für Asylsuchende (OeSA) mithelfen. Diese Gruppe war es, die den Gesprächsabend mit Kardinal Montenegro organisierte. Sie wirkt im Bewusstsein, dass die Italiener einst als Migranten in die Schweiz gekommen sind. «Wir sind aufgenommen worden. Jetzt sind wir eine Gemeinschaft, die aufnimmt», erklärte der Gruppenverantwortliche Calogero Marturana.

P. Valerio Farronato, Pfarrer von San Pio X, betonte, dass sich die Pfarrei für Aufnahme und Offenheit gegenüber Menschen unterschiedlicher Herkunft engagiere. Die fremdsprachigen Gemeinschaften in der Region Basel müssten Orte der Hoffnung sein, damit die Menschen überall Heimat finden könnten.

Noch während des Aufenthalts von Kardinal Montenegro in Basel vom 13. bis 15. September kam die Nachricht, dass Italien nach dem Regierungswechsel erstmals seit einem Jahr einem Rettungsschiff einer Hilfsorganisation einen sicheren Hafen zugewiesen habe. 181 Personen wurden in Lampedusa an Land gebracht.

Christian von Arx

«Tutti a Mariastein!»: Hundert Jahre Dankbarkeit

Nach dem Vortrag des Kardinals im Saal der Pfarrei San Pio X in Basel ergriffen mehrere Anwesende das Wort. | © Christian von Arx
Kardinal Montenegro berichtete in Basel aus dem Brennpunkt der Migrationsbewegung über das Mittelmeer. | © Christian von Arx