Der italienische Franziskaner Pierbattista Pizzaballa, Erzbischof und Apostolischer Administrator des Lateinischen Patriarchats von Jerusalem, lebt seit 30 Jahren in Jerusalem. | © zVg
Der italienische Franziskaner Pierbattista Pizzaballa, Erzbischof und Apostolischer Administrator des Lateinischen Patriarchats von Jerusalem, lebt seit 30 Jahren in Jerusalem. | © zVg
06.02.2020 – Hintergrund

«Aufs Trennende zu fokussieren, schafft Mauern in den Köpfen»

Interview mit Erzbischof Pierbattista Pizzaballa zur Situation in Palästina

Der 54-jährige Franziskaner Pierbattista Pizzaballa lebt seit 30 Jahren in Jerusalem. Er sieht grosse Veränderungen im Leben der Christen in Palästina. Schulen, Universitäten oder Krankenhäuser seien ein Ausdruck der christlichen Präsenz.

Sie haben das Caritas Baby Hospital mehrfach besucht. Was sind Ihre Eindrücke?

Erzbischof Pierbattista Pizzaballa: Das Caritas Baby Hospital ist aus verschiedenen Gründen eine der bedeutendsten christlichen Einrichtungen in Bethlehem. Zum einen, weil es das einzige Spital ist, das sich ausschliesslich um Kinder und Babys kümmert und sich in verschiedenen Bereichen der Kinderheilkunde spezialisiert. Zweitens ist das Spital einer der grössten Arbeitgeber in der Region. Und drittens, und das ist nicht minder wichtig, herrscht dort eine ganz besondere Atmosphäre. Die Art dieser Einrichtung ist sehr offen und modern. Das ist in diesem traditionell geprägten Kontext hier sehr wichtig.

Im Caritas Baby Hospital werden alle Kinder gleichbehandelt, unabhängig von ihrer ökonomischen, sozialen oder religiösen Herkunft. Warum ist das in der Region so wichtig?

Das ist so wichtig, weil das Trennende immer hervorgehoben wird. Anstatt aufs Verbindende zu schauen, fokussiert man aufs Trennende. Man schaut auf sein Dorf, seine Familie, seine Religion. Dieses Denken schafft Mauern in den Köpfen. Im Caritas Baby Hospital hingegen spielen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Herkunft keine Rolle. Alle sind willkommen. Das macht diese Einrichtung so besonders. Zu einem gewissen Grad findet man das auch in anderen Institutionen, aber im Kinderspital nimmt man es einfach sehr deutlich wahr.

Sie leben seit 30 Jahren in Jerusalem. Was hat sich in dieser Zeit verändert?

Oh, eine ganze Menge. Als ich ankam, tobte die erste Intifada. Dann kam Oslo, die Euphorie über das Oslo-Abkommen, die Frustration über das Oslo-Abkommen, die zweite Intifada und alles was danach kam. Es hat sich eigentlich alles verändert: was die Infrastruktur betrifft, die Politik, das Soziale und die Religion. Die Gesellschaft von damals ist heute eine andere. Vor 30 Jahren hat man noch daran geglaubt, dass man sich auf ein Abkommen einigt, mehr noch, auf eine stabile Lösung. Und jetzt? Jetzt ist es schwierig jemanden zu finden, der noch ernsthaft an eine Lösung glaubt. Vor 30 Jahren spielte die Religion eine Rolle, aber sie hat nicht alles bestimmt. Heute bestimmt die religiöse Einstellung auch die politische Sicht auf die Dinge.

Sie stehen in sehr engem Kontakt zur Bevölkerung im Westjordanland. Was sind deren Hauptsorgen?

Sie wollen ein normales Leben. Sie wollen sich frei bewegen können. Sie wollen eine gute Zukunft für ihre Kinder, wollen einfach leben wie andere Menschen auch. Sie haben es satt, darauf zu warten, ob es irgendwann irgendeine Lösung gibt. Sie wollen ein Land mit normal funktionierenden Institutionen, ein normales Leben, Bürgerrechte.

Sie waren auch häufig im Gaza-Streifen. Wie ist die Situation da?

Die Situation dort ist beschämend, wirklich, eine Schande. Die Menschen haben kaum Möglichkeiten zu arbeiten, die Arbeitslosenrate liegt bei über 60 Prozent, es gibt selten Strom, sie sind eingeschlossen und können nicht aus dem Gaza-Streifen heraus. In jedem Gespräch sagen die Menschen, sie wollen ein «tasreeh», also eine Genehmigung, das Gebiet zu verlassen. Sie leben in einem grossen Käfig.

Wie ist die Situation der Christen im Westjordanland?

Im besetzten palästinensischen Gebiet erleben wir gerade grosse Veränderungen. Christliche Familien verlassen aus ökonomischen Gründen oder für die Ausbildung ihrer Kinder die ländlichen Regionen und ziehen in Städte wie Bethlehem und Ramallah. Auf dem Land gibt es besonders für junge Leute kaum Möglichkeiten. Das bedeutet, dass sich das christliche Leben mit den Jahren nur noch auf die Städte konzentrieren wird. Leider.

Im besetzten palästinensischen Gebiet ist das Leben aus verschiedenen Gründen schwierig. Das können wirtschaftliche Gründe sein, aber auch die Religion. Wobei ich da gerne etwas bremse: Minderheiten steigern sich oft in ihre Probleme hinein, das ist eine Art Minderheitenkomplex. Wenn es Probleme gibt, führen sie es reflexartig auf ihr Christsein zurück. Aber gewisse Probleme haben alle, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit. Weil wir nicht mehr so viele sind, passiert es auch oft, dass unsere Bedürfnisse schlicht nicht mehr wahrgenommen werden. In der Vergangenheit spielten die Christen in der Gesellschaft und der Politik eine zentralere Rolle, waren eine Elite. Heute hat sich das alles verändert.

Ist das in Israel auch so?

Nein. Zuerst ist da ein grosser zahlenmässiger Unterschied. In Israel leben 130’000 Christen, im Westjordanland 45’000. Diese Zahlen geben schon mal eine klare Indikation. Auch in Israel verändert sich das christliche Leben, aber es ist stabil. Der grundlegende Unterschied ist: Die Christen in Israel haben, anders als im Westjordanland, eine Staatsbürgerschaft, sie haben Rechte, sie können wählen. Die meisten Christen dort gehören zur Mittelschicht. Sie sind nicht besonders eng mit der Kirche verbunden, auch weil die Kirche für sie nicht lebensnotwendig ist. Die Zugehörigkeit zur Religion prägt vielmehr die Identität. Die Herausforderungen der Kirche im palästinensischen Gebiet sind andere: Dort trägt jedes Kirchenmitglied wesentlich dazu bei, die Präsenz des Christentums im Westjordanland sicherzustellen.

Haben Sie von Unterdrückung der Christen gehört?

Natürlich gibt es Einzelfälle von Gewalt in Familien, von Auseinandersetzungen zwischen Glaubensgruppen. Aber das geschieht episodisch, nicht regelmässig. Es gibt im Westjordanland keinen IS. Natürlich dürfen wir nicht naiv sein oder immer alles schönreden. Es gibt Spannungen, es gibt auch religiöse Spannungen, aber die sind eher auf spezielle Gruppen beschränkt. Man kann nicht sagen, dass die Gesellschaft gegen die Christen ist.

Viele christliche Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäuser werden durch internationale Spenden finanziert. Was würde passieren, wenn diese Gelder wegfallen?

Das wäre eine Katastrophe. Natürlich wünschen wir uns alle, dass all diese Institutionen selbsttragend wären und weniger Unterstützung aus dem Ausland bräuchten. Aber so lange das Westjordanland keine stabile politische Situation und normale Lebensbedingungen hat, brauchen diese Einrichtungen Hilfe von aussen. Wenn diese Unterstützung aber stetig abnimmt – und das ist bereits wahrzunehmen – dann wird das eine Menge von Problemen schaffen. Sehen Sie, alle diese Institutionen sind eine Form, wie die Christen im Heiligen Land präsent sind. Unser Ausdruck von Präsenz sind die Schulen, Universitäten oder Krankenhäuser. Wenn sie geschlossen werden, weil keine finanziellen Mittel mehr vorhanden sind, ist die Botschaft: Wir ziehen uns zurück und interessieren uns nicht mehr für euch. Und diese Botschaft geben wir in allererster Linie den Christen in der Region. Wenn wir uns zurückziehen, wie sollen wir ihnen sagen «bleibt im Heiligen Land, wir brauchen die christliche Präsenz vor Ort, ihr seid lebendige Steine…»? Wir würden damit auch zum Ausdruck bringen, dass wir als internationale Gemeinschaft nicht mehr besonders an den Christen im Heiligen Land interessiert sind. Wenn diese Einrichtungen verschwinden, würde sich definitiv das Gesicht der Gesellschaft verändern.

Was heisst das?

Die Situation ist anders als in den 40er-, 50er- oder 60er-Jahren, als es zum Beispiel nur christliche Schulen gab. Jetzt gibt es viel mehr Angebote. Aber, ich betone nochmals, unser prägender Einfluss würde verloren gehen, der Einsatz für die Armen, für Kinder, für Behinderte – unsere gelebte Botschaft, dass wir im Heiligen Land sind. Diese Einrichtungen sind Zeichen unserer Präsenz und man darf den symbolischen Wert nicht unterschätzen, den diese Institutionen haben.

Warum sind christliche Einrichtungen im Heiligen Land so erfolgreich und anerkannt?

Weil sie nicht ideologisch sind, sondern offen. Wir missionieren nicht und versuchen nicht, die Menschen zu bekehren. Wir haben aus der Geschichte unsere Lektion gelernt. Ich denke, die Herausforderung wird sein, dass die verschiedenen Einrichtungen in Zukunft stärker zusammenarbeiten müssen. Früher hat jeder darauf bestanden, alles ganz für sich allein zu machen, die Franziskaner und die Karmeliten, das Caritas Baby Hospital und das Holy Family Krankenhaus, und so weiter. Jetzt, wo sich die Situation verändert, auch im Ausland, haben wir einfach nicht mehr die gleichen Ressourcen wie früher. Es geht nicht mehr darum, den Status Quo aufrecht zu erhalten, sondern wie wir besser und enger zusammenarbeiten können, um die neue Situation zu bewältigen.

Sehen Sie schon Anzeichen dafür?

Ich bin überzeugt, dass wir gar keine andere Wahl haben. Aber es wird ziemlich schwierig. Sehr schwierig. Noch ist das Denken in den Institutionen und Gemeinschaften vorrangig geprägt von Besitzstandswahrung. Daher brauchen wir eine neue Generation von Menschen aus dem In- und Ausland, die nicht so am Traditionellen hängt. Es geht darum, gemeinsam über Begrenzungen im Kopf hinwegzudenken. Um im Bild zu bleiben: die Mauer ist auch ein mentaler Fakt, nicht nur ein physischer.

Interview: Livia Leykauf, für die Kinderhilfe Bethlehem