11.06.2020 – Editorial

Hoffnung

Als Barack Obama 2008 zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde, fürchtete ich um sein Leben. Ich ging aufgrund der immer wieder aufflackernden rassistisch motivierten Gewalt davon aus, dass es Kreise gab, die es nicht akzeptieren konnten, von einem Schwarzen regiert zu werden. In den acht Jahren seiner Amtszeit wuchs eine andere, ebenfalls düstere Erkenntnis: Noch schlimmer für die Anhänger der weissen Vorherrschaft scheint es gewesen zu sein, wenn ­eine Frau das höchste Amt übernommen hätte. Dies bestätigte sich bei der Wahl von Obamas Nachfolger, als die US-Amerikaner und -Amerikanerinnen die Gelegenheit bekamen, ihre erste Präsidentin zu wählen.

Als 2016 feststand, dass ein Mann, der für grosse Teile der Bevölkerung nur höhnische Verachtung übrig hat, Präsident für mindestens vier Jahre werden würde, war ich fassungslos. Schnell zeigte sich, dass sich der Neue nicht als Präsident aller, sondern vor allem ­seiner Anhänger verstand. Das Verbleiben im Wahlkampfmodus heizte die Polarisierung ­weiter an.

Immer mehr boten die USA das Bild einer gespaltenen Gesellschaft. So gespalten, dass man an den Konflikt um die Sklaverei und dessen Folgen denkt. Als sich Abraham Lincoln 1858 um einen Senatssitz bewarb, zitierte er in einer Rede 1858 die Bibel: «Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es keinen Bestand haben.» Die Auseinandersetzung um die Sklaverei wurde für die USA zur Zerreissprobe und mündete 1861 in einen blutigen Bürgerkrieg.

Im Buch «Diese Wahrheiten: Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika» bezeichnet die Historikerin Jill Lepore die Billigung der Sklaverei in der Verfassung von 1787 als Erbsünde der Nation. Das war ein Widerspruch zur Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. Diese hält in der Präambel fest: «Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden.» Die Sklaverei wurde verboten, der Rassismus hat nicht aufgehört. 1963 äusserte Martin Luther King die Hoffnung, dass die in der Unabhängigkeitserklärung verkündeten Wahrheiten auch Realität werden.

Die jüngsten Ereignisse zeigen, dass seine Worte nichts an Aktualität eingebüsst haben und nicht nur die USA deutlich von der Erfüllung dieser Hoffnung entfernt sind.

Regula Vogt-Kohler