13.01.2022 – Editorial

Eine Enkelin berichtet

Wir sind im Jahr 1965. Hans-Peter Tschudi ist Bundespräsident, in Rom geht das Konzil zu Ende. In einem Bergdorf in der Türkei entschliesst sich ein 34-jähriger Hirte, der nie eine Schule besucht hat, seine Heimat zu verlassen. In der Schweiz, so hofft er, kann er Geld verdienen für die Familie. Seine Frau und fünf Kinder lässt er zurück. In der Klus bei Balsthal wird er Gussputzer in der Giesserei der Von Roll. Dort lebt er mit Landsleuten in einer Baracke auf dem Fabrikgelände. Nach sieben Jahren mietet er eine Wohnung, nun kommt die Familie nach.

Spuren dieses Lebenswegs waren dieser Tage in einer Regionalzeitung zu lesen. Nachgezeichnet von einer Enkelin, die Journalistin geworden ist. Ihr Bericht lässt uns die Migration aus der Sicht von Betroffenen erleben. Weitgehend offen lässt er, wie Ansässige und Einwanderer damals miteinander umgingen. Im Dorf sei die Nase gerümpft worden über die Gastarbeiter in der Klus, erfährt man. «In ihren Baracken unter ihresgleichen fühlten sie sich zuhause.»

Gerne wüsste ich mehr davon: Wie und mit wem kam der einstige Hirte aus der Türkei hier in Kontakt? Fand er Kollegen, Vorgesetzte, Nachbarn, die ihm beim Fussfassen halfen? Die später auch seiner Frau und den Kindern Wege zeigten, am neuen Lebensort heimisch zu werden?

Ich lese den Zeitungsartikel und frage mich: Werden dereinst auch die Enkel der heutigen Asylsuchenden davon erzählen, wie ihre Grossväter und Grossmütter im Jahr 2022 ihre Ankunft in der Schweiz erlebten?

Christian von Arx