Postplatz in Grenchen am letzten Streiktag, 14. November 1918: Die Waadtländer Füsiliere des Bat. 6 besetzen das Zentrum mit Maschinengewehren, Passanten und Streikende beobachten das Geschehen. An diesem Tag kamen in Grenchen drei junge Männer durch Schüsse der Füsiliere ums Leben. | © Kultur-Historisches Museum Grenchen, «Streikalbum» (Fotograf unbekannt)
Postplatz in Grenchen am letzten Streiktag, 14. November 1918: Die Waadtländer Füsiliere des Bat. 6 besetzen das Zentrum mit Maschinengewehren, Passanten und Streikende beobachten das Geschehen. An diesem Tag kamen in Grenchen drei junge Männer durch Schüsse der Füsiliere ums Leben. | © Kultur-Historisches Museum Grenchen, «Streikalbum» (Fotograf unbekannt)
13.09.2018 – Hintergrund

Die Katholiken zwischen Revolution und Bürgerblock

Soziale Not und Umsturzangst bestimmten die Haltung von Bischöfen und Politikern im Landesstreik 1918

Vor und während dem Landesstreik vom November 1918 standen Kirche und katholische Politiker im Zwiespalt: Sie kritisierten deutlich die Not grosser Bevölkerungsschichten, wollten aber nicht mit den sozialdemokratischen Arbeiterführern paktieren, erklärt der Historiker Urban Fink.

Nahm die katholische Kirche im Konflikt rund um den Landesstreik Stellung?

Urban Fink: Diese Aufgabe übernahm die Schweizerische Konservative Volkspartei (KVP, die Vorläuferin der heutigen CVP), die sich damals als politischer Arm der Kirche verstand. Die KVP hatte einen sozialen Flügel, der die soziale Problematik sehr genau wahrnahm. Die Bischöfe selbst äusserten sich in Bettagsmandaten, so im Bettagsmandat 1917 gegen den Wucher mit Nahrungsmitteln. Damit nahmen die Bischöfe ein Anliegen der Bevölkerung auf, das besonders in den Städten drängend war, wo es kaum Gärten gab und die Wohnungsnot hoch war.

Auf welcher Seite standen die Exponenten der Kirche und der KVP?

Die Katholisch-Konservativen waren in einem Zwiespalt. Sie wollten nicht mit den ­Sozialdemokraten paktieren, aus Angst vor den «gottlosen Sozi» und aus Furcht vor einem revolutionären Umsturz. Zwar erkannten auch die Sozialdemokraten, dass die Konservativen gewisse soziale Anliegen unterstützten. Aber zwischen den beiden Lagern herrschte Misstrauen, weil neben der Gefahr der «Gottlosigkeit» einzelne Sozialisten gegen kirchliche Amtsträger lästerten, zum Beispiel in Sachen Zölibat.

Kirche – Stütze des bürgerlichen Staates

Wie war das Verhältnis der Katholisch-Konservativen zur bürgerlich-freisinnigen Seite?

Seit dem Eintritt ihres ersten Vertreters Josef Zemp in den Bundesrat 1891 wurden sie in der Bundespolitik zum «Juniorpartner» der Freisinnigen. Reibungspunkte mit den Freisinnigen ergaben sich in Bezug auf die von radikaler Seite im 19. Jahrhundert beschnittene Freiheit der Kirche und die Frage der religiös geführten Schulen. Insgesamt wurde die Kirche eher als Stütze des bürgerlichen Staates wahrgenommen. Die Kirche kämpfte gegen die soziale Not, hatte aber Angst vor einem allmächtigen Staat, sei dies von freisinniger Seite oder bei den Sozis nach einer Revolution.

Hatte der gesellschaftliche Kampf auch Spannungen innerhalb der Kirchen zur Folge?

Auffällig ist: Die extrem ultramontanen (romtreuen) Pfarrer waren auch die am meisten sozial eingestellten. Ein Beispiel ist der christlichsozial stark engagierte Pfarrer August Ackermann (1883–1968): Er wurde wegen seiner polarisierenden ultramontanen Einstellung 1912 vom Solothurner Kantonsrat als Pfarrer von Welschenrohr abgesetzt, Bischof Jakob Stammler schwieg zu dieser Verjagung. Ackermann war dann eine Zeitlang Hilfsgeistlicher in Basel, eckte aber auch später an: 1926 verlor er die Pfarrstelle in Obergösgen, 1931 in Sissach.

Militärdienst als ökumenische Erfahrung

Gibt es von den Bischöfen offizielle Verlautbarungen zu den Themen des Konflikts?

Die Bischöfe wollten sicher nicht den Umsturz, äusserten sich aber nicht direkt dazu. Das überliessen sie den Politikern der KVP. Im Weltkrieg haben sie sich für einen «gerechten Frieden» und gegen einen Diktatfrieden eingesetzt. Die Erfahrung der Grenzbesetzung während des 1. Weltkriegs, als katholische und reformierte Soldaten auf dem gleichen Stroh schliefen, war wichtig für die Anfänge der Ökumene. Das Tagebuch, das der Mariasteiner Wallfahrtspriester P. Willibald Beerli während des Weltkriegs schrieb, gibt Einblick in die Entwicklung solch guter Beziehungen zwischen Reformierten und Katholiken.

Kommentierten Kirchenvertreter öffentlich einzelne Ereignisse um den Landesstreik, etwa den Militäreinsatz in Grenchen, wo drei Personen erschossen wurden?

Nein, da würde man zu viel erwarten. Auch wenn die Streikführung nach unserem heutigen Wissen keinen Umsturz plante, befürchteten bürgerliche Kreise einen gewaltsamen revolutionären Umsturz. Ich denke, dass die Bischöfe den Militäreinsatz als kleineres Übel in Kauf nahmen.

Sind Äusserungen von einzelnen Geistlichen oder kirchlichen Wortführern bekannt?

Eine wichtige sozialpolitische Stimme auf katholischer Seite war Josef Beck (1858–1943) als Theologieprofessor in Fribourg. Ausgehend von seinen Erfahrungen als Vikar in St. Clara in Basel (1885–1888) befasste er sich mit der Arbeiterfrage. Er engagierte sich über Jahrzehnte zusammen mit dem Basler Ernst Feigenwinter (1853–1919) und dem Bündner Caspar Decurtins (1855–1916) für Sozialreformen und hatte grossen Anteil an der damaligen Sozialgesetzgebung.

Interview: Christian von Arx