: Bei diesem Fest einer Gruppe des indigenen Volkes der Otomí in Mexiko werden Bilder Unserer Lieben Frau von Guadalupe gesegnet. | © Sandra Angélica Martínez Cruz/wikimedia commons
: Bei diesem Fest einer Gruppe des indigenen Volkes der Otomí in Mexiko werden Bilder Unserer Lieben Frau von Guadalupe gesegnet. | © Sandra Angélica Martínez Cruz/wikimedia commons
08.12.2021 – Impuls

Lukas 1,46–52

«Da sagte Maria: Meine Seele preist die Grösse des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Grosses an mir getan und sein Name ist heilig. Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten.»

Einheitsübersetzung 2016

 

Die Frau der kleinen Leute

In der Pandemie sind mir zwei Gebete lieb und teuer geworden, am Morgen, nach dem Frühgebet der Mönche, wenn die Basilika menschenleer ist, die Stille gross, der neue Tag am Kommen. Der Kreuzweg! Ich gehe ihn den 14 Stationen entlang und stehe schliesslich vor der Kopie des Gnadenbildes. Am 18. März 2020 wurde sie, weil die Gnadenkapelle geschlossen werden musste, auf dem Seitenaltar platziert. Dort stehe ich in aller Herrgottsfrühe vor «Unserer Lieben Frau im Stein» und murmle die Lauretanische Litanei. Ich mag sie, diese Anrufungen im Rhythmus des «Bitte für uns!», die Bilder, die von der Liebe, vom Vertrauen, von der Zuneigung des christlichen Volkes zeugen, angereichert durch die poetische Kraft der Bibel, aber auch mit den täglichen Leiden und Nöten der kleinen Leute.

Gern verweile ich bei der «Jungfrau, von den Völkern gepriesen», weiss mich verbunden mit den Menschen, die gestern hier waren, um ein Kerzlein anzuzünden und einen Blick der Madonna und dem Jesuskind zuzuwerfen, junge Familien mit Kinderwagen, alte Leute am Rollator, Behinderte im Rollstuhl oder an Krücken, Menschen aus vielen Nationen und Kulturen, von unterschiedlicher religiöser Tradition und Prägung. Ich denke an jene, die mir speziell am Herzen liegen, an die andern, die heute kommen werden, um hier ihre grossen Anliegen und kleinen Sorgen zu deponieren, auch um Dank zu sagen in ihrer Muttersprache. Maria versteht sie alle. Die einen bleiben kaum eine Minute lang, andere setzen sich für eine halbe Stunde hin, um unter dem gütigen Auge Marias zur Ruhe zu kommen. Vielleicht beten sie still im Herzen, preisen die Grösse des Herrn, jubeln über Gott, ihren Retter. Vielleicht sind sie einfach da, und es genügt ihnen.

Unter diesen kleinen Leuten auf dem Weg durch den Advent ist auch der Mexikaner Juan Diego Cuauhtlatoatzin. Im Dezember 1531 war ihm eine Dame erschienen, «die ihn bat, näherzutreten. Es war eine wunderschöne Dame von übermenschlicher Schönheit. Ihr Gewand leuchtete wie die Sonne; der Fels, auf den sie ihren Fuss setzte, schien aus kostbaren Steinen gehauen zu sein und der Boden rot wie der Regenbogen. Das Gras, die Bäume und das Buschwerk sahen wie Smaragde aus; die Blätter wie feine Türkise; und die Zweige blitzten wie Gold». Sie redete zu Juan Diego: «Ich bin die heilige Maria, die ewige Jungfrau, die Mutter des wahren Gottes. Ich möchte, dass hier ein Heiligtum errichtet wird, um dir meine Liebe zu zeigen. Ich bin deine barmherzige Mutter, deine Mutter und die aller Bewohner dieser Erde. Ich bitte dich, gehe und sprich mit dem Bischof von Mexiko und sage, dass ich dich gesandt habe, um ihm meinen Willen kundzutun.»

Es brauchte einige Überzeugungsarbeit, auch ein Blumenwunder und die überraschende Entdeckung, dass sich das Bild der Dame im Umhang des Juan Diego eingeprägt hatte, bis der Bischof bereit war, den Anweisungen Folge zu leisten.

Zehn Jahre zuvor, 1521, hatte Fernando Cortés in einer blutigen Schlacht die einheimischen Azteken vernichtend geschlagen, vierzehn Jahre später, 1545, wurde die Geschichte von Juan Diego und der schönen Dame in der Einheimischen-Sprache Nahuatl aufgeschrieben. Nicht die Kanonen und die Arroganz der spanischen Eroberer, erst recht nicht ihre Goldgier, sondern die Jungfrau Maria, Einheimische unter den Einheimischen, die sich dem Juan Diego als Aztekin vorstellte, gekleidet nach Stil und Symbolik seiner Kultur, sie öffnete Christus den Weg in die Herzen der kleinen Leute von Mexiko. So geschieht es bis heute, bis an die Enden der Erde, bis zum Ende der Welt.

Peter von Sury, Abt des Benediktinerklosters Mariastein