Das Deckengemälde der Kirche von Reckingen im Goms stellt dar, wie Gott aus einer Rippe des schlafenden Adam Eva erschuf (linke Bildhälfte). Wer ist die wohlgekleidete Frau (rechts), die diesem Gotteswerk zuschaut? (Foto: Ludwig Hesse)
Das Deckengemälde der Kirche von Reckingen im Goms stellt dar, wie Gott aus einer Rippe des schlafenden Adam Eva erschuf (linke Bildhälfte). Wer ist die wohlgekleidete Frau (rechts), die diesem Gotteswerk zuschaut? (Foto: Ludwig Hesse)
12.05.2018 – Impuls

Baruch 3,9.14f.29–38

Höre Israel, die Gebote des Lebens; merkt auf, um Einsicht zu erlangen.
Lerne, wo die Einsicht ist, wo Kraft und wo Klugheit, dann erkennst du zugleich, wo
langes Leben und Lebensglück, wo Licht für die Augen und Frieden zu finden sind.
Wer hat je den Ort der Weisheit gefunden? Wer ist zu ihren Schatzkammern vorgedrungen?
Wer stieg zum Himmel hinauf, holte die Weisheit und brachte sie aus den Wolken herab? Wer fuhr über das Meer und entdeckte sie und brachte sie her gegen lauteres Gold?
Keiner weiss ihren Weg, niemand kennt ihren Pfad.
Doch der Allwissende kennt sie; er hat sie in seiner Einsicht entdeckt.
Er hat ja die Erde für immer gegründet, er hat sie mit Tieren bevölkert. Er sendet das Licht, und es eilt dahin; er ruft es zurück, und zitternd gehorcht es ihm. Froh leuchten die Sterne auf ihrem Posten. Ruft er sie, so antworten sie: Hier sind wir. Sie leuchten mit Freude für ihren Schöpfer.
Das ist unser Gott; kein anderer gilt neben ihm.
Er hat den Weg der Weisheit ganz erkundet und hat sie Jakob, seinem Diener, verliehen, Israel, seinem Liebling. Dann erschien sie auf der Erde und hielt sich unter den Menschen auf.

Einheitsübersetzung

 

Die Frau an der Seite Gottes

Bei meinem Besuch der Kirche von Reckingen im Obergoms habe ich nicht schlecht gestaunt, als ich das Deckengemälde näher betrachtet habe. Es stellt die Erschaffung Evas (nach dem jahwistischen Schöpfungsbericht in Gen 2,21f.) dar, ein Motiv, das in der religiösen Malerei nicht ganz selten ist. Die Vorstellung, dass Gott aus einer Rippe des Erdmenschens eine Frau formt, hat die Malerfantasie oft angeregt. Schliesslich war mit der Erschaffung der Frau auch die Mann-Werdung Adams verbunden.

Bei der Betrachtung des Bildes von Reckingen fällt aber auf, dass bei der Schöpfungsszene eine Frau zugegen ist, eine Frau bei der Erschaffung der Frau. Sie sitzt, schön bekleidet, auf einem Stein und betrachtet das Werk Gottes. Diese Frau muss also bereits existiert haben, bevor Gott den Menschen schuf.

Nun ist natürlich Gott auch bereits als Mann dargestellt, bevor der Menschenmann erwacht ist. Aber man ist ja die Männergestalt Gottes gewohnt. Aber wer ist die Frau an der Seite Gottes?

Der Kirchenführer hat sich offensichtlich auch bereits mit dieser Frage befasst und benennt die Frau als Maria, die schon bei der Schöpfung als Mutter des Gottessohnes auserwählt gewesen sei, eine mutige These, denn Maria war ganz gewiss eine geschaffene Frau und damit eine Urtochter Evas.

Der Text des Baruch (nur in katholischen Bibelausgaben zu finden, entstanden in der grossen Umbruchszeit der babylonischen Gefangenschaft) gibt einen Hinweis ganz anderer Art. An der Seite Gottes ist die Weisheit zu finden, eine Wesenheit, die gottgleich jenseitig ist, für Menschen unerreichbar. Sie war vor aller Zeit bei Gott, sie ist kein Geschöpf. Vielmehr setzt Baruch sie deutlich in den Zusammenhang, in dem die Frau im Reckinger Bild steht: Der Schöpfer hat die Weisheit eingebunden in sein Schöpfungsprojekt. Man wird also nicht falsch liegen, wenn man Frau Weisheit als Beraterin, als Inspirationsquelle Gottes bezeichnet.

Wir erinnern uns an den anderen (den priesterschriftlichen) Schöpfungsbericht der Bibel (Gen 1,27): «Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.» Hier wird betont, dass gerade die Zweigestaltigkeit des Menschen als Mann und Frau Abbild Gottes ist, der in sich zwei- oder vielgestaltig ist und ganz sicher nicht als Urbild allein des Mannes vorgestellt werden darf.

Nein, von Gott darf man sich kein Bild machen, weil Gott in keinem Bild erfasst werden kann. Dennoch kann der Mensch nicht anders, als sich aus dem eigenen Erleben der Welt eine Vorstellung Gottes zu bilden, in aller Relativität: Gott ist immer ganz anders. Aber jeder Offenbarungs- und Denkbeitrag lässt uns Gott tiefer erkennen, jedes Bild erweitert unseren religiösen Horizont, auch wenn wir bei keinem Bild stehen bleiben werden.

Sich Gott als Spannungseinheit von männlichen und weiblichen Elementen vorzustellen, dürfte unser Gottesbild sicher erweitern. Vielleicht dürfen wir weiterdenken und sagen, dass keine Schöpferkraft ohne Inspiration, ohne Schönheitsempfindung auskommt.

Bald feiern wir Pfingsten, und Baruch schliesst seine Botschaft mit dem Satz: «Dann erschien sie auf der Erde und hielt sich unter den Menschen auf.» Eben das feiern wir und nennen diese Weisheit Gottes den Heiligen Geist. Diese Frau möge auch uns inspirieren, beraten und begeistern.

Ludwig Hesse, Theologe, Autor und Teilzeitschreiner, war bis zu seiner Pensionierung Spitalseelsorger im Kanton Baselland