Ein Mob geht auf ein Opfer los: Wandbild in der «Sündenbock»-Ausstellung. | © Regula Pfeifer
Ein Mob geht auf ein Opfer los: Wandbild in der «Sündenbock»-Ausstellung. | © Regula Pfeifer
28.03.2019 – Aktuell

Die ewige menschliche Suche nach dem Sündenbock

Die neue Ausstellung im Landesmuseum Zürich zeigt auch, wie Thora und Bibel der Gewalt entgegenwirkten

Von der Urzeit bis heute haben Menschengruppen Gewalt gegen Einzelne ausgeübt. Die jüdische und die christliche Religion hätten erstmals eine Schranke gegen den Sündenbock-Mechanismus gesetzt, sagt Marina Amstad, Kuratorin der Ausstellung «Sündenbock» im Landesmuseum Zürich.

 

Totenköpfe an der Wand und in Vitrinen: Die Ausstellung führt mitten in die urzeitliche Grausamkeit. Aus dem Kopfhörer des Audioguide dringen Musik und Erklärungen in die Ohren der Besucherin. Spuren ritueller Opferung von Erwachsenen und Kindern seien an den Gebeinen entdeckt worden, heisst es auf den Schildern vor den Vitrinen.

Auch die hoch kultivierten Römer und Griechen erscheinen in der «Sündenbock»-Ausstellung in nicht besonders gutem Licht. Mythen aus jener Zeit hätten eindeutig die Sicht der Täter positiv dargestellt und die Gewalt gegen Opfer befürwortet, sagt die Stimme aus dem Audioguide.

 

Brudermord wird gerechtfertigt

Vor einer Steinskulptur mit der berühmten Wölfin wird etwa der Gründungsmythos der Stadt Rom als Tätermythos entlarvt. Romulus, der seinen Bruder Remus erschlug, habe Recht bekommen. Denn er gründete darauf Rom. Auch beim griechischen Minotaurus-Mythos wurden die Menschenopfer, die dem griechischen Gott dargebracht werden mussten, nicht hinterfragt, finden die Ausstellungsmacher. Verschiedene mythische Erzählungen sind auf Vasen abgebildet.

Zwar gab es bereits in der Antike politische Anläufe, Menschenopferungen zu verbieten. So verbot dies 97 nach Christus der römische Senat, wie beim Zeitgenossen Plinius dem Jüngeren nachzulesen ist. Offenbar ohne bleibende Wirkung. Denn dreihundert Jahre später spricht eine andere Schrift vom «Wahnsinn der Menschenopfer».

 

Jüdischer Glaube deckt Triebfeder auf

Vor einer grossen Thorarolle in einer Wandvitrine erklärt der Audioguide: «Der jüdische Glaube deckt die Triebfeder für Missgunst, Rivalität und Aggression auf.» Dies insbesondere im Gebot, man solle nicht nach dem Besitz seines Nächsten trachten. Das Judentum habe den Auslöser für die Gewaltausbrüche benannt und erstmals versucht, solche zu unterbinden, sagt die Ausstellungskuratorin Marina Amstad im Gespräch.

Weiter hinten kauert eine Frauenfigur in der Ecke des Raums. Sie stellt die Ehebrecherin dar, welche die Schriftgelehrten und die Pharisäer gemäss dem Johannesevangelium zu Jesus brachten. Nach dem Gesetz hätten sie die Frau steinigen sollen. Doch Jesus habe zu ihnen gesagt: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie (Joh 8,7).

 

Christentum bricht Gruppendynamik auf

In dieser Geschichte gehe es darum, die Gruppendynamik aufzubrechen, sagt Am­stad. Denn wer nicht mehr als Teil einer Gruppe Steine gegen jemanden werfen könne, habe Schwierigkeiten. «Niemand will allein einen Stein werfen», so die Kuratorin. Also falle die Gruppensteinigung weg.

Eine eigentliche Umkehr in der Opfer-Täter-Darstellung sieht Amstad bei der christlichen Passionsgeschichte. Im Gegensatz zur griechischen Mythologie werde nun Jesus von einigen Menschen als unschuldiges Opfer beweint. «Mit diesem Blickwechsel kann der Sündenbock-Mechanismus aufgedeckt werden», sagt Amstad. «Die Bibel und das Christentum haben ein grosses Potenzial, Gewalt im Menschen zu unterbinden.»

Leider habe sich dieses Potenzial aber nicht wirklich durchgesetzt, fügt sie hinzu und verweist auf die Vorkommnisse im Mittelalter und der frühen Neuzeit, die im nächsten Raum dargestellt sind.

 

Theologe auf dem Scheiterhaufen

Da werden Fälle von Verfolgungen in einzelnen Vitrinen präsentiert. Frauen wurden der Hexerei bezichtigt, Männer der Homosexualität und Juden als Seuchenverursacher, andersdenkende Theologen als Ketzer. Unter ihnen die «letzte Hexe» Anna Göldin (1734–1782) aus dem Glarnerland sowie der böhmische Theologe Jan Hus, der 1415 in Konstanz wegen seiner Lehre auf dem Scheiterhaufen landete. «Bei all diesen Verfolgungen war die christliche Gemeinschaft sehr aktiv», sagt Amstad.

Auslöser der Gewalt waren auch Naturkatastrophen, Seuchen und Missernten. Für solche damals unerklärlichen Phänomene suchten die Menschen «Schuldige». Die in der Aufklärung aufblühenden Naturwissenschaften lieferten nun Erklärungen. Und der Staat übernahm zunehmend das Gewaltmonopol, um der Selbstjustiz durch Menschengruppen den Riegel zu schieben. Eine Guillotine im Raum lässt kritischen Assoziationen dazu freien Lauf.

 

Bis in unsere Zeit

Solche technischen und politischen Entwicklungen halten die Menschen offenbar nicht davon ab, weiterhin Sündenböcke zu suchen. Eine Galerie angeschossener Persönlichkeiten unserer Zeit – von der SP-Politikerin Tamara Funiciello über die zum Rücktritt gezwungene erste Bundesrätin Elisabeth Kopp bis hin zum Fernseh-Wettermoderator Jörg Kachelmann – schliessen den Kreis der offenbar ewigen menschlichen Sündenbocksuche.

Regula Pfeifer, kath.ch

 

Die Ausstellung im Landesmuseum Zürich dauert bis 30. Juni und wird von Anlässen ­begleitet. So führt Niklaus Peter, Pfarrer am Zürcher Fraumünster, am Donnerstag, 6. Juni, 19 Uhr, unter dem Titel «Sündenbock-Mechanismen – über gute und schlechte Opfer» durch die Ausstellung.