30.04.2020 – Editorial

Christ sein ist möglich

Die Coronakrise hat alle Religionsgemeinschaften in der Schweiz innert weniger Tage in eine Situation gebracht, in der gewohnte Formen religiösen Lebens unmöglich geworden sind. Was ist jetzt das Wichtigste? Diese Frage mussten und müssen sie sich neu stellen. Mit Blick auf das von der Infektionswelle überrollte Italien beklagt der Philosoph Giorgio Agamben – er ist Ehrendoktor der Theologischen Fakultät Fribourg –, dass Menschen einsam sterben mussten und ihre Körper verbrannt wurden, ohne bestattet zu werden. Die Schwelle zwischen Menschlichkeit und Barbarei sei überschritten worden. Der Kirche wirft er vor, sie habe vergessen, dass eines der Werke der Barmherzigkeit darin bestehe, die Kranken zu besuchen, und dass auf den eigenen Nächsten zu verzichten bedeute, auf den Glauben zu verzichten.

Die Härte dieses Urteils schmerzt. Vielleicht ist es ungerecht – allein im Bistum Bergamo sollen mehrere Dutzend Priester am Virus gestorben sein. Aber es mahnt, dass sich der Glaube der Kirche daran zeigt, wie sie gerade jetzt handelt. In der Schweiz blieben uns die schwersten Prüfungen, wie sie einige Regionen Italiens und ihre Spitäler durchmachen mussten, bisher erspart. In dieser Ausgabe von «Kirche heute» finden sich Beispiele von Pfarreien und Institutionen, die tun, was jetzt unmittelbar nötig ist: Bei isolierten Menschen nachfragen, wie es ihnen geht, den Kontakt nicht abbrechen lassen, Hilfeleistungen anbieten. Auch die Spitalseelsorge ist nicht abgebrochen. Kirche findet statt, auch ohne öffentliche Gottesdienste.

Die Evangelien überliefern übereinstimmend, was Jesus als das wichtigste Gebot nannte: «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken.» Als ebenso wichtig nannte er das zweite: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» Als ein Schriftgelehrter zusammenfasste, diese zwei Gebote seien «weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer», stimmte ihm Jesus zu. Und bei Johannes steht das Jesuswort: «Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.»

Es stimmt, dass das zurzeit geltende Versammlungsverbot die Religionsfreiheit einschränkt. Und natürlich wünschen sich die Kirchen, möglichst bald wieder zum gemeinsamen Feiern rufen zu können. Aber unsere Freiheit, den wichtigsten Geboten des Glaubens nachzuleben, ist durch die Vorschriften gegen die Verbreitung des Coronavirus nicht eingeschränkt. Fast möchte man sagen: im Gegenteil.

Christian von Arx