Buchautor Pierre Stutz plädiert für einen spirituellen Umgang mit den Urkräften Ärger, Wut und Zorn. (Foto: Stefan Weigand)
Buchautor Pierre Stutz plädiert für einen spirituellen Umgang mit den Urkräften Ärger, Wut und Zorn. (Foto: Stefan Weigand)
03.03.2018 – Hintergrund

Vom Wut- zum Mutbürger werden

Buchautor Pierre Stutz spricht am 6. März in der Basler Predigerkirche

Der Theologe Pierre Stutz hat ein Buch über die spirituelle Botschaft von Ärger, Wut und Zorn geschrieben und trifft damit den Zeitgeist. In diesen Urkräften liegt aber auch jede Menge Potenzial. Im Interview erläutert Pierre Stutz diese These.

Pierre Stutz, in Ihrem Buch «Lass dich nicht im Stich» sprechen Sie von einer geerdeten Spiritualität. Was macht einen spirituellen Umgang mit Ärger, Wut und Zorn aus?
Pierre Stutz: In diesen Urkräften, die sehr zerstörerisch sein können, liegt auch eine heilende göttliche Kraft. Mir geht es darum, diese Kraft freizulegen. Ich gehe davon aus, dass sich Gottes Lebenskraft, die uns alle beseelt, in der Kraft der Empörung, des Zorns ereignet. Dieser Prozess des Freilegens und die damit verbundene Arbeit an sich selbst ist für mich ein spiritueller Umgang mit Ärger, Wut und Zorn, der den destruktiven Kräften eine positive Wendung gibt.

Viele ticken aber doch eher ichbezogen …
Die Haltung «Ich muss gut über die Runden kommen» nehme ich in der spirituellen Begleitung wahr. Wie kann ich gut für mich sorgen? Zugleich ist zu beobachten, dass die andere Frage nach der Sehnsucht nach Frieden und mehr Gerechtigkeit, die in jedem Menschen schlummert, mehr und mehr in den Hintergrund tritt. Dennoch gärt diese Frage in uns weiter, denn sie verschwindet nicht. Die Grundkraft Aggression und Wut, ohne die wir nicht leben können, wird kleingehalten, bis sie gar nicht mehr wahrgenommen wird. Allerdings bieten diese Grundkräfte Potenzial für neue Horizonte. Das ist meine These in dem Buch.

Sie sagen, echte Selbstannahme ist der Schlüssel für eine friedvollere Welt. Wie und wo finde ich diesen Schlüssel zur Selbstannahme?
Das ist mein Weg, für den ich lange gebraucht habe, ihn zu finden. Dabei setze ich auf mein Potenzial, indem ich noch mehr zu meiner Stärke stehe. Ich nenne das, die Angst vor der eigenen Grösse verlieren, ohne grössenwahnsinnig zu werden. Das ist eine nie endende Aufgabe, Wege zu finden, in die eigene Kraft hineinzugehen, ohne sich zugleich absolut zu setzen, wie das fundamentalistischer Terrorismus tut.

Ist das mit dem Buchtitel «Lass dich nicht im Stich» gemeint?
«Lass dich nicht im Stich» meint, habe den Mut zu dem zu stehen, was du kannst. Jesuanisch gesprochen: Stell dich in die Mitte. Das andere ist, zu lernen, mit meinen nicht gelebten Bedürfnissen, die ein tieferer Grund des Ärgers sind, konstruktiv umzugehen. Ich ärgere mich oder werde im Extremfall zornig, wenn ein Grundbedürfnis von mir vernachlässigt wird. So gesehen ist die Selbstannahme nicht nur etwas Schönes, sondern bedeutet auch, mich mit meinen Schattenseiten, mit meiner Verwundbarkeit, mit meinen Leichen im Keller anzufreunden, um mich nicht von ihnen unbewusst bestimmen zu lassen.

Wie kann eine konstruktive Integration von Aggression aussehen?
Grundhaltung ist, mir diese Gefühle zu erlauben. Sie gehören zu unserem Leben. Sie sind Ausdruck meiner Lebendigkeit. Fromm ausgedrückt sind sie Ausdruck der Lebenskraft Gottes in mir. Liebend unterwegs sein, heisst immer wieder, Ärger, Wut, Zorn zu spüren und sie mir zu erlauben. Das tönt so einfach, ist aber mein jahrelanger Weg. Heute hat wieder ein spiritueller Leistungsdruck Oberwasser. Würde ich noch ein bisschen mehr meditieren, würde ich mehr und mehr in der Balance sein. Das A und O meiner Bücher ist aber, das Glück der Unvollkommenheit im Auge zu behalten und zu einzuüben, liebend mitten im Leben zu stehen. Das heisst, staunen, ausflippen, danken können, und das heisst, diese Zerbrochenheit, den Schmerz über die Ungerechtigkeiten noch intensiver wahrnehmen. Das fasziniert mich und das wollen viele heute nicht hören.

Was hat das alles mit Religion zu tun?
Hans Küng bringt es mit der goldenen Regel als konstitutives Element jeder Religion auf den Punkt, wenn er mit seinem Weltethoskonzept sagt: Kein Frieden in der Welt ohne Friede unter den Religionen. Der unendliche Flüchtlingsstrom hat mit der grossen Schattenseite der Menschheit zu tun. Jede und jeder hat das Grundbedürfnis nach Frieden, Sicherheit und Heimat, ohne die niemand leben kann. Aufgrund der inneren Stimme, die Gerechtigkeit einfordert, kommt unglaublicher Ärger und grosse Wut dazu, die zur Friedenskraft wird. Empört euch! Dieses kleine Büchlein hat Stefan Hesse im Alter von 90 Jahren geschrieben und damit sehr viele junge Leute erreicht. Ich teile seine Botschaft: Empört euch nicht jeden Tag über alles – das lähmt –, sondern wähle einen Empörungsgrund, ein Thema aus, das dir nahe ist und auf den Nägeln brennt. Da gehe in deine Kraft rein. Das hat für mich etwas mit Gott zu tun. Etty Hillesum bringt es als 29-jährige jüdische Frau im KZ auf den Punkt. 1943 schreibt sie in ihr Tagebuch: Heute wird mir klar, dass du, Gott, mir nicht helfen kannst, denn wir müssen dir helfen, um die Friedenskraft in uns zu verteidigen. In dieser Sicht kann ich als mündiger Mensch Eigenverantwortung übernehmen. Ich bin dann ein Komplize Gottes.

Interview: Wolf Südbeck-Baur

Pierre Stutz (65) stammt aus dem Aargau und lebt in Lausanne. Der katholische Theologe und ehemalige Priester ist Autor von über 40 Büchern, hält Vorträge und leitet Kurse. «Aufbruch«-Veranstaltung mit Pierre Stutz in Basel: Dienstag, 6. März, 19 Uhr, Predigerkirche, Totentanz 19.