Stephan Rothlin SJ sieht im Abkommen mit China einen realistischen Kompromiss zwischen römischen und chinesischen Interessen, der sich am Modell des Bischofswahlrechts im Bistum Basel inspiriert habe. | © Regula Pfeifer
Stephan Rothlin SJ sieht im Abkommen mit China einen realistischen Kompromiss zwischen römischen und chinesischen Interessen, der sich am Modell des Bischofswahlrechts im Bistum Basel inspiriert habe. | © Regula Pfeifer
10.10.2019 – Aktuell

«Basler Modell wird weltweit als Präzedenzfall angeführt»

Der in China lehrende Jesuit Stephan Rothlin sieht im China-Abkommen des Vatikans einen Bezug zur Schweiz

Der Schweizer Jesuit Stephan Rothlin lehrt in China Wirtschaftsethik – unter anderem in Hongkong, wo er aufgrund der Proteste eine aufgewühlte Gesellschaft wahrnimmt. Rothlin verteidigt die Annäherung zwischen dem Vatikan und Peking: Die Bischofswahl nach dem Basler Modell, das die Ortskirche und die staatlichen Partner in die Bischofswahl einbezieht, habe den Deal mit inspiriert.

Herr Rothlin, wann waren Sie zuletzt in Hongkong?

Stephan Rothlin: Vor einer Woche. Ich bin jeden Monat ein paar Tage in Hongkong, weil ich dort Kurse zu Kontemplation und Leadership gebe und im Bereich der Wirtschaftsethik arbeite. Ich habe am letzten Sonntag einen Gottesdienst gefeiert und die Unruhen in meiner Predigt thematisiert. Die Frage war: Wo setzen wir Werte? Sind wir vom «CCCC Singapur Traum» gesteuert – also «Cash, Car, Credit Card, Condominium (Wohneigentum)» – oder von den Werten des Glaubens? Ich habe die Hoffnung ausgedrückt, dass der Glaube helfen kann, zu versöhnen.

Wie erleben Sie die Situation in Hongkong?

Ich bin seit 25 Jahren regelmässig in Hongkong und erlebe die Stadt nun völlig verändert. Hongkong ist normalerweise voller Touristen – die bleiben jetzt aber weitgehend weg. Man sieht viel Polizei. Ich halte mich an die Anweisungen der Behörden und meide bestimmte Quartiere. Die Menschen gehen nur noch auf die Strasse, wenn sie unbedingt müssen.

Wie dramatisch ist die Situation?

In Hongkong prallen gerade zwei verschiedene Systeme aufeinander. Kaum eine Seite ist bereit, Zugeständnisse zu machen. Der Riss geht oft durch Familien. Das ist für die meisten eine unerträgliche Situation.  Als Schweizer geniesse ich in China ein grosses Privileg: Ich kann mich frei bewegen, solange ich mich an die Spielregeln halte.

Einer der grössten Kritiker des chinesischen Regimes ist der frühere Bischof von Hongkong, Kardinal Joseph Zen. Unterstützt die katholische Kirche die Demonstranten?

Nein. Die Diözese Hongkong versucht, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. Die katholische Kirche geniesst in Hongkong ein grosses Renommee, das sollte sie nicht aufs Spiel setzen. Sie engagiert sich stark im Schulwesen. Im letzten Jahr hatten Abdankungsfeiern von irischen Jesuiten beinahe den Charakter von grossen Staatsbegräbnissen.

Kardinal Zen kritisiert auch das Abkommen zwischen dem Vatikan und Peking, wonach künftig das Regime bei den Bischofsernennungen ein Wörtchen mitzureden hat. Nun wurde der erste Bischof nach dem neuen Abkommen geweiht.

Etwas radikal Neues ist das Abkommen nicht. Schon in den letzten Jahren hat Rom bei Bischofsernennungen mit Peking einen Konsens gesucht. Der jetzige Bischof von Peking, Joseph Li Shan, ist beispielsweise ein Bischof, der von beiden Seiten akzeptiert war. Die neue Regelung ist ein provisorisches Abkommen. Der offizielle Text ist nicht veröffentlicht.

Trotzdem werfen Kritiker Papst Franziskus vor, die romtreue Untergrundkirche verraten zu haben.

Wir dürfen nicht an der guten Intention des Papstes zweifeln. Er sieht sich in der Tradition von Missionaren wie Matteo Ricci (1552–1610), die unter Chinesen als Freunde Chinas bekannt sind. Das Abkommen schaut in die Zukunft. Das heisst nicht, dass wir die Menschen vergessen, die in den letzten Jahrzehnten im Untergrund Rom die Treue gehalten und darunter gelitten haben. Aber die Spaltung unserer Kirche ist ein unannehmbarer Zustand. Wir können davon ausgehen, dass sich die Verhältnisse in China nur langfristig langsam ändern werden. Von daher war eine realistische Regelung überfällig, die einen Kompromiss bildet zwischen den römischen und den chinesischen Interessen.

Welche Konsequenzen hat das Abkommen für den Otto-Normal-Kirchgänger?

Die Verhältnisse werden nicht mehr so konfus sein. Zum Teil wussten die Gläubigen nicht, ob sie eine kirchenrechtlich gültige Messe mit einem legitimen Priester feiern oder nicht. Wenn die Kirchen vom Staat registriert sind, können sie aus dem Schatten der Illegalität herauskommen. Das ist ein positiver Aspekt.

Für Sie ist der Deal von Papst Franziskus nur halb so wild. Warum?

Weil ich auf das Basler Modell verweisen kann. Hier entscheidet nicht einzig der Papst, wer Bischof wird, sondern auch die Ortskirche im Dialog mit der lokalen Regierung. Sie hat die Möglichkeit, einen Bischofskandidaten zu streichen. 1994 beispielsweise wurde der Luzerner Regionaldekan Rudolf Schmid von der Sechserliste gestrichen. Das fand ich schade: Schmid wäre meiner Ansicht nach ein fähiger Bischofskandidat gewesen.

Das duale System steht immer wieder in der Diskussion. Konservative Kreise behaupten, der Schweizer Weg sei unrömisch und gleiche dem chinesischen: eine Anbiederung an den Staat.

Das Adjektiv unrömisch scheint mir völlig unqualifiziert zu sein. Katholisch sein bedeutet auch: Der Glaube soll in verschiedenen politischen Kulturen Wurzeln fassen. Somit ist es auch «römisch», wenn die Ortskirchen im Einklang mit Rom lokale Lösungen finden. Es ist arrogant, dem dualen System die Katholizität abzusprechen. Das Basler Modell wird auf der ganzen Welt immer wieder als Präzedenzfall angeführt. Auch in den Beratungen mit Peking wurde immer wieder auf das Basler Modell verwiesen.

Interview: Raphael Rauch, kath.ch

Der Jesuit Stephan Rothlin (59) stammt aus Lachen SZ. Er lehrt seit 1998 Wirtschaftsethik in Peking und Hongkong. In Macau führt er ein Forschungszentrum, das chinesische und westliche Kulturen mit ihren spirituellen Traditionen im Fokus hat.